Ende Mai veröffentlichten französische NGOs in der Libération die gemeinsame Erklärung A la frontière franco-britannique, la mort n’est pas une fatalité (An der britisch-französischen Grenze ist der Tod kein unabwendbares Schicksal). Damit wollen sie den Blick auf die Zunahme von Todesfällen in vergangenen Halbjahr lenken, den sie als Folge migrationspolitischer Fehlentscheidungen deuten. Zugleich unterstützten sie einen Vorstoß französischer Abgeordneter nach einer parlamentarischen Untersuchung zum Vorgehen der Ordnungskräfte und zur Lage der Menschenrechte im französisch-britischen Grenzraum. Lokale Initiativen legen währenddessen weitere Belege für ein gewaltsames Vorgehen gegen ablegende Schlauchboote vor.
Zu den Unterzeichner_innen der Erklärung gehören u.a. die französischen Repräsentant_innen von Médecins Sans Frontières, Amnesty International, Secours Catholique/Caritas France, Safe Passage, Médecins du Monde und La Cimade, aber auch lokal tätige Organisationen wie Utopia 56, Salam, Human Rights Observers und Auberge des migrants.
Sie sprechen von mindestens 20 Todesfällen seit Jahresbeginn und einer Gesamtzahl dokumentierter Todesfälle seit 1999 von mindestens 414. Als Gründe benennen ein Bündel von Faktoren, die indirekt riskante und tödliche Situationen entstehen lassen: von den Lebensbedingungen in den Camps über den permanenten Druck durch Räumungen und Beschlagnahumungen bis hin zur Militarisierung der Fährhäfen.
Im Mittelpunkt steht jedoch das gewaltsame Vorgehen gegen ablegende Schlauchboote, über das wir bereits mehrfach berichtet haben (siehe hier, hier, hier und hier):
„Seit einigen Jahren gibt es das Abfangen von Booten an den Stränden, bevor sie zu Wasser gelassen werden. Eingriffe der Ordnungskräfte, um Abfahrten mit Messerstichen in die Schlauchbooten zu verhindern; Auseinandertreiben der Personen unter Einsatz von Tränengas, Gummigeschossen und Schlagstöcken. All das tötet nicht, aber Menschen sterben daran: Panik am Strand oder an Bord der Boote, Ertrinken während eines Einsatzes, Havarien nach Abfahrten, die sich immer weiter von der britischen Küste entfernt haben, um ein Abfangen zu verhindern.“
Gemeinsame Erklärung französischer NGOs, in: Libération, 30. Mai 2024
In denselben Kontext gehören, so die Unterzeichner_innen, die im Frühjahr 2024 dokumentierten Pullback-Operationen französischer Behörden auf See (siehe hier):
„Und dann ist da noch das, was wir als Vereine, die sich für die Unterstützung von Exilierten engagieren, regelmäßig von ihnen hören und was von Journalisten von Le Monde, Der Spiegel und The Lighthouse Reports dokumentiert wurde: In den französischen Gewässern des Ärmelkanals und der Nordsee würden Gendarmen und Polizisten eingreifen, um Überfahrten zu verhindern. Sie würden eingreifen, wenn die Schlauchboote bereits im Wasser sind, indem sie versuchen, die Menschen zu erschrecken, sie bedrohen, künstliche Wellen erzeugen und die Boote mit Messern aufschlitzen. Eine Gefährdung des Lebens von Menschen im Exil.“
Gemeinsame Erklärung französischer NGOs, in: Libération, 30. Mai 2024
Es ist momentan nicht schwer, weitere Belege für die routinemäßige Anwendung von Gewalt gegen ablegende Boote zu finden. So veröffentlichten die in Calais ansässigen Human Rights Observers am 28. Mai ein Video von einem Vorfall Ende März bei Calais:
Offensichtlich von einem Exilierten aufgenommen, zeigt das Video eine aufgeregte Situation, bei der zwei Angehörige der Ordnungskräfte ein am Strand liegendes Schlauchboot mit Messern zerstechen. Die Menschenrechtsgruppe betont, dass es kein Einzelfall ist: „Die Polizeigewalt an den Stränden nimmt seit Monaten zu. In dem Maße, wie sich die Grenzpolitik verschärft, zögern die Ordnungskräfte nicht, unter Missachtung des Rechts und der Menschenwürde auf gewalttätige und unverhältnismäßige Interventionen zurückzugreifen.“
Das gewaltsame Vorgehen, zu dem auch CS-Gas und Gummigeschossen gehören, verfehle jedoch sein Ziel: „Diese Gewalt schreckt nicht ab, sondern macht die Passagen nur noch gefährlicher. Die Überfahrten erfolgen immer weiter entfernt, in Hast und Angst.“ Die einzige Lösung sei die Schaffung sicherer und legaler Wege für die Weiterreise nach Großbritannien.
Geradezu emblematisch illustriert ein weiteres Bilddokument die Situation. Es datiert vom 6. Juni 2024, dem 80. Jahrestag des D-Day. Ein knietief im Wasser stehender Uniformierter schaut auf ein bereits im Wasser befindliches Boot. Unmittelbar zuvor scheint ein CS-Gas-Einsatz erfolgt zu sein, Gas- oder Rauchschwaden umgeben das Boot noch. Im Wasser befinden sich mehrere Personen, die das Boot entweder noch nicht bestiegen haben oder ins Meer gestürzt sind. „Die Personen auf dem Boot stellen keine Gefahr dar und die meisten von ihnen, darunter viele Kinder, können nicht schwimmen“, schreibt der Aktivist Nikolaï Posner. Vom selben Tag berichtet die Initiative Osmose 62, die sich in Boulogne-sur-Mer um Menschen nach gescheiterten Passageversuchen kümmert: „Mehrere Exilierte berichteten, das Polizisten Gas eingesetzt und geschlagen hätten. Diese haben auch ein Kanu mit einem Messer aufgestochen.“
Inzwischen hat der Wahlrerfolg der französischen Rechtsextremen bei der Wahl des EU-Parlaments am 9. Juni 2024 eine Dynamik in Gang gesetzt, die kurzfristig zu einer Neuwahl der Nationalversammlung führen wird. Eine parlamentarische Aufarbeitung der Gewalt ist vorerst nicht mehr möglich. Unmittelbar setzt vielmehr ein Wahlkampf ein, dessen Verlauf maßgeblich durch die extreme Rechte bzw. ihre Abwehr geprägt sein wird. Dies ist kein guter Kontext für den Versuch, die Gewalt zu unterbinden.