Erneut wurden an der nordfranzösischen Küste drei Leichen von Exilierten aufgefunden; allein in einem kleinen Küstenabschnitt bei Calais steigt die Zahl der Leichenfunde binnen zweier Wochen auf acht. Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass es sich vermutlich um Menschen handelt, die seit einer Havarie am 23. Oktober vermisst werden. Diese erweist sich damit als eine der schlimmsten Katastrophen im Rahmen der Bootspassagen nach Großbritannien.
Neue Leichenfunde bei Calais
Bereits am 30. Oktober, 2. November, 4./5. November waren an der nordfranzösischen Kanalküste die Körper von neun Exilierten entdeckt worden. Drei dieser Leichen wurden im Küstengebiet bei Boulogne-sur-Mer entdeckt, nachdem dort ein ablegendes Boot havariert und ein Mann während des Rettungseinsatzes gestorben war. Fünf der Leichen wurden jedoch in einem anderen Küstenabschnitt, nämlich bei Calais und Sangatte, entdeckt. Hinzu kommt ein weiterer Leichenfund bei Dover, allerdings ist unklar, ob dieser mit der Bootsmigration im Zusammenhang steht.
In den vergangenen Tagen folgten weitere grausame Funde. Wie die Zeitung La voix du Nord meldet, wurde am Vormittag des 12. November ein Leichnam am Strand der Gemeinde Sangatte westlich von Calais angespült. „Der Körper befand sich in einem fortgeschrittenen Verwesungszustand von mindestens einer Woche,“ so die Zeitung. Eine weitere Leiche fand man am selben Tag einige Kilometer westlich am Strand von Strouanne in der Gemeinde Wissant.
Am Morgen des 14. November folgte dann ein weiterer Leichenfund, diesmal am Stadtstrand von Calais. „Die steigende Flut hatte die Leiche auf den Sand gespült. Ein Spaziergänger schlug Alarm, als er sie entdeckte. […] Es handelte sich um die Leiche eines Mannes in den Dreißigern. Die Identifizierung der Nationalität war aufgrund des fortgeschrittenen Verwesungszustands der Leiche nicht möglich“, schreibt La Voix du Nord.
Seit Montsbeginn wurden im selben Küstenabschnitt bei Calais also acht Menschen aufgefunden, die ganz offensichtlich bei einer versuchten Bootspassage gestorben waren.
Die Havarie vor Calais am 23. Oktober
Lokale Initiativen und Medien gehen inzwischen davon aus, dass es sich um Opfer einer Havarie handelt, die sich am 23. Oktober etwa zwei Kilometer vor der Küste von Calais ereignet hat. Während eines Rettungseinsatzes waren an diesem Tag zwei Passagiere leblos geborgen worden, ein drittes Todesopfer wurde am selben Tag im Meer treibend entdeckt (siehe hier). „Aber es gab auch eine ungewisse und möglicherweise hohe Zahl an Vermissten“, berichtet La Voix du Nord: „Hilfsorganisationen für Migranten in der Gegend von Calais sprachen von einem Dutzend Vermissten nach der Havarie. Diese Schätzung wurde von den Behörden bislang nicht bestätigt, da die genaue Anzahl der Passagiere, die sich zum Zeitpunkt des Unglücks an Bord befanden, nicht bekannt war.“
In den Tagen nach dem 23. Oktober erhielt Utopia 56 nach eigenen Angaben „zahlreiche Suchanfragen von Familienangehörigen vermisster Personen“. Die Organisation geht davon aus, dass „in der Nacht des 23. Oktober vermutlich mindestens 16 Menschen ertrunken“ seien. Nach Ansicht von Utopia 56 könnte die Havarie vom 23. Oktober „die tödlichste seit dem 24. November 2021 gewesen sein“ – damals waren vermutlich 31 Menschen ertrunken, 27 Leichen waren geborgen worden (siehe hier).
Osama Ahmed, ein 20jähriger syrischer Überlebender, schildert in einem Interview mit InfoMigrants, wie er die Havarie am 23. Oktober erlebte, bei der sein Vater spurlos verschwand. Demnach tauchten bereits kurz nach dem Ablegen Probleme auf: „Nur wenige Meter vor der Küste begann das Wasser in unser Boot einzudringen. Wir beschlossen daher umzukehren. Die Schleuser waren immer noch am Strand. Sie sagten uns, dass es normal sei, dass Wasser in das Boot eindringe, und zwangen uns, wieder in See zu stechen. Doch nur wenige Minuten später sackte das Boot ab, was wahrscheinlich auf die Überfüllung an Bord zurückzuführen war. Wir waren zwischen 60 und 70 Personen in diesem kleinen Boot, weit entfernt von seiner ursprünglichen Kapazität.“ Als es dann zur Katastrophe kam, befand sich das Boot bereits zu weit auf See, um noch umkehren zu können. „Das Boot verlor völlig die Luft und wir fielen alle ins Wasser. Wir hielten uns so gut es ging an den Seitenwänden des Bootes fest. […] Wir begannen, die Hoffnung zu verlieren, ich sah mich selbst sterben. Gegen 4 Uhr morgens fuhren zwei Schiffe an uns vorbei, ohne uns zu helfen. Eineinhalb Stunden später kamen schließlich die Rettungsteams. Als ich gerettet wurde, verlor ich das Bewusstsein. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht […]. Als ich am Abend aufwachte, suchte ich überall nach meinem Vater. Ich habe alle befragt: Krankenhäuser, Polizeistationen, Vereine, aber niemand hatte ihn gesehen.“ Außerdem veröffentlichte er auf Social Media ein Video, um das Schicksal seines Vaters aufzuklären. Gegenüber InfoMigrant geht er von vierzehn Vermissten aus.
Angesichts einer so großen Zahl vermisster Personen stellt sich die Frage, ob die Suche nach möglichen Überlebenden der Havarie ausreichend war. Auf Anfrage von InfoMigrants teilte die Seepräfektur mit, „dass sie nicht über das Verschwinden der 14 Personen informiert worden sei.“ Allerdings heißt es in einer Presseerklärung der Seepräfektur vom Unglückstag, die Überlebenden seien „von den Rettungsdiensten an Land und der Grenzpolizei betreut“ worden. Üblicherweise werden sie dabei von der Grenzpolizei befragt, während gleichzeitig staatsanwaltschaftliche Ermittlungen eingeleitet werden. Es ist schwer vorstellbar, dass niemand der 48 Überlebenden auf eine so große Zahl von Vermissten hingewiesen haben sollte.