Interview mit Refugee Rights Europe über das Abdriften der britischen Migrationspolitik
English version below
Im vergangenen Jahr wurden die Bootspassagen zu einem zentralen Thema der britischen Politik. Zugleich waren sie Anlass immer neuer Vorstöße der britischen Regierung: Unterbringung von Neuankömmlingen in früheren Militärkasernen (siehe hier), groteske Ideen von Pushbacks auf See und schwimmenden Barrieren (siehe hier), forcierte Abschiebungen (siehe hier) und neue bilaterale Vereinbarungen mit Frankreich (siehe hier). Im März 2021 veröffentlichte Innenministerin Priti Patel dann den „New Plan for Immigration“, der einen Teil dieser Vorschläge aufnimmt und auf eines der restriktivsten Asylsysteme in Westeuropa abzielt (siehe hier). Wir baten die Londoner Menschenrechtsorganisation Refugee Rights Europe um eine Einschätzung der Lage. Und was ist zu erwarten?
Als die Bootspassagen über den Ärmelkanal im vergangenen Sommer stark zunahmen, wurden sie zu einem zentrales Thema der britischen Politik. Haben die Channel crossings die Politik der britischen Regierung verändert, und wenn ja, wie?
Die Mediatisierung der Channel crossings war sicherlich ein Katalysator für die Ausarbeitung von Strategien und Vereinbarungen, und zwar sowohl in Bezug auf die britisch-französische Grenze im Besonderen (z.B. die bilaterale Finanzierungsvereinbarung im November zur Bekämpfung der Bootsüberfahrten) als auch hinsichtlich allgemeinerer Einwanderungsfragen.
Das Land erlebte politische Verschiebungen bei der Unterbringung von Asylbewerbern (neue Nutzung von Militärkasernen, die in Wirklichkeit De-facto-Haftzentren sind), bei der Bearbeitung von Asylanträgen (neue Unzulässigkeitsregeln) und bei den Grenzkontrollen (Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen, Wiedereinführung der zwangsweisen Abnahme von Fingerabdrücken im Rahmen der vorgezogenen Kontrollen in Calais), was oft als Reaktion auf die Zunahme der irregulären Migration und als eine Notwendigkeit, um Menschen von der Überquerung des Ärmelkanals in kleinen Booten abzuhalten, dargestellt wurde.
Angesichts der Tatsache, dass die derzeitige Innenministerin von Beginn ihrer Amtszeit an ihre Absicht deutlich gemacht hat, das Asylsystem drastisch zu reformieren, glauben wir jedoch, dass der mediale und politische Hype um die Channel crossings einfach instrumentalisiert und in gewissem Maße entlang einer bereits bestehenden politischen Agenda orchestriert wurde, um die Regierungspolitik in Bezug auf die Migration zu verschärfen.
Damals wurde berichtet, dass die britische Regierung extreme Maßnahmen in Erwägung ziehe, etwa eine schwimmende Barriere im Ärmelkanal, Pushbacks auf See oder Offshore-Asylzentren auf entlegenen Inseln nach australischem Vorbild. Was wurde aus diesen Ideen?
Einige dieser Ideen wurden vorerst hintangestellt, während andere von der Regierung bereits umgesetzt wurden oder noch umgesetzt werden sollen. Die ausgefalleneren Vorschläge von Wellenmaschinen und schwimmenden Barrieren im Meer wurden nicht umgesetzt, wobei unklar ist, ob die Regierung solche Möglichkeiten immer noch prüft oder ob die Vorschläge nur in die Welt gesetzt wurden, um zu signalisieren, dass sie eine harte Haltung zu den Channel crossings einnimmt.
Zur Durchführung von Pushbacks auf See kam es infolge der unterschiedlichen Auslegungen des internationalen Seerechts durch die französische und britische Regierung nicht – denn Pushbacks würden eine gewisse Form der Zusammenarbeit mit den französischen Behörden erfordern.
Das Offshore-Asylverfahren hingegen würde durch den von der Regierung vorgeschlagenen „New Immigration Plan“ möglich gemacht, der die Bearbeitung von Asylanträgen im Ausland gestattet. Dieser Plan wird in einen Gesetzesentwurf münden, über den das Parlament im späteren Jahresverlauf abstimmen wird. Doch selbst wenn er verabschiedet wird und die Offshore-Verfahren eingeführt wird, hat die Regierung bisher keine Abkommen mit Drittländern geschlossen, in die Menschen zur Bearbeitung ihres Asylantrags geschickt werden könnten, und so bleibt der Vorschlag zumindest im Moment nicht umsetzbar.
Großbritannien hat versucht, ein Abkommen mit Frankreich über Zurückweisungen auf See zu schließen. Denkt ihr, dass es eine solche Vereinbarung geben wird?
Wir glauben, dass ein solches Abkommen im derzeitigen politischen Klima kaum erzielt werden kann. Es gibt derzeit keinen Anreiz für Frankreich, Pushbacks oder Rückführungen von Migrant_innen aus Großbritannien zu akzeptieren, wenn Großbritannien umgekehrt keinerlei Migrant_innen aufnimmt, wozu es nach dem Dublin-III-System verpflichtet gewesen war. Dies wird ebenso von verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten unterstrichen, einschließlich der jüngsten Erklärung Frankreichs, dass es keine bilateralen Abkommen mit Großbritannien über die Rückführung von Asylsuchenden akzeptieren würde.
Im letzten Herbst versuchte die Regierung unter dem Namen „Operation Sillath“, vor dem Vollzug des Brexit am 31. Dezember noch möglichst viele Migrant_innen in EU-Länder abzuschieben. Ist ihr das gelungen?
Die Regierung unternahm sicherlich eine konzertierte Aktion, um so viele Personen wie möglich vor dem 31. Dezember auf der Grundlage des Dublin-Abkommens abzuschieben, allerdings wurde in Wirklichkeit nur ein sehr geringer Anteil von Leuten tatsächlich abgeschoben wurde. Der Grund waren wahrscheinlich Reiseschwierigkeiten während der Covid-19-Pandemie, fehlende Rücknahmebereitschaft von EU-Mitgliedsstaaten und dass die Leute gute Gründe gegen ihre Abschiebung geltend machen konnten. Wir glauben jedoch, dass eines der Hauptziele der Regierung bei der öffentlichen Ankündigung dieser Abschiebungen darin bestand, eine harte Linie gegen die irreguläre Migration einzunehmen – sowohl um zukünftige Migrant_innen abzuschrecken, als auch um das migrationsfeindliche Wählerlager zu beschwichtigen. So gesehen hat sie mit Erfolg den Anschein eines harten Durchgreifens erweckt, auch wenn in Wirklichkeit relativ wenige Abschiebungen tatsächlich durchgeführt wurden.
Um die Jahreswende eskalierte die Situation in den Napier Barracks, einer Militärkaserne in Folkstone, in der immer mehr Channel migrants unter unsäglichen Bedingungen untergebracht wurden. War das ein Modell für die künftige Migrationspolitik?
Diese Art der Aufnahme scheint tatsächlich ein Modell für die zukünftige Politik zu sein, denn der „New Immigration Plan“ der Regierung umreisst sehr klar die Absicht, neuartige Aufnahmezentren für neuankommende Migrant_innen einzurichten, die wahrscheinlich den derzeit genutzten Militärkasernen ähneln werden. Die Napier- und Penally-Kaserne scheinen also ein Test für eine Abschreckungspolitik gewesen zu sein, die zukünftig in größerem Umfang umgesetzt wird.
Wie du schon sagtest, hat Priti Patel vor einigen Wochen den „New Immigration Plan” veröffentlicht. Wir wird dieser Plan die Situation der Geflüchteten verändern, insbesondere der Channel migrants und der Exilierten in Calais?
Der von Priti Patel vorgeschlagene Plan würde eine äußerst schädliche Politik gegenüber Personen hervorbringen, die internationalen Schutz in Großbritannien suchen. Einige Vorschläge beinhalten:
– die Einführung eines Zweiklassen-Systems, das auf irregulärem Wege einreisende Personen bestraft, indem es ihre Anträge unzulässig macht und ihre Abschiebung ermöglicht;
– die Ermöglichung eines Offshore-Asylverfahrens, was bedeutet, dass jede_r, der/die in Großbritannien ankommt, in ein anderes Land gebracht und dort während der Prüfung des Asylantrags festgehalten werden kann;
– schnellere Entscheidungen, damit Personen leichter aus dem Vereinigten Königreich abgeschoben werden können.
Eine detaillierte Analyse der neuen Vorschläge findet sich hier.
Die Entwicklung in den ersten Monaten dieses Jahres lässt vermuten, dass es in diesem Jahr mehr erfolgreiche Bootspassagen geben dürfte als in den letzten Jahren. Wird dies politisch debattiert, und wenn ja, wie?
Die Regierung scheint sich dieses Trends bewusst zu sein, da sie bereits im Rahmen des „New Immigration Plan“ auf die Channel crossings referiert und den Plan zu einem Zeitpunkt dieses Jahres veröffentlicht hat, an dem die Kanalüberquerungen aufgrund der besseren Wetterbedingungen wahrscheinlich zunehmen würden. Wenn der Gesetzesentwurf dann, wie angekündigt, im Herbst veröffentlicht wird, wird er von einer intensiven Presseberichterstattung über die Bootsüberfahrten im Verlauf des Sommers getragen sein.
Angesichts der Tatasache, dass im letzten Sommer die vorgeschlagenen Maßnahmen zum Abfangen auf See, zur zwangsweisen Rückführung, zur Wellenmaschine o.ä. im Ärmelkanal den Eindruck erzeugten, dass die Regierung kraftvoll auf den neuen Trend regagiere, ist es wahrscheinlich, dass die Regierung in diesem Sommer mit ihren neuen Gesetzesvorschlägen dasselbe anstrebt.
Was ist Eurer Meinung nach politisch zu tun?
Wir fordern die Einführung eines asylbezogenen Reisedokuments, mit dem potenzielle Asylsuchende, die an der britischen Grenze in Frankreich ankommen, beantragen können, sicher – und nicht an Bord eines Lastwagens oder eines Schlauchboots – nach Großbritannien reisen zu können. Dies würde das Vereinigte Königreich in die Lage versetzen, eine Schutzlösung an seiner Grenze anzubieten und die kritische Flaschenhals-Situation an der britisch-französischen Grenze (in Calais und Umgebung) zu beheben, die in den Jahrzehnten seit der Einführung der gegenseitigen vorgezogenen Kontrollen in den frühen 1990er Jahren zu unentschuldbarem menschlichem Leid und zu horrenden Ausgaben von britischem Geld geführt hat.
Langfristig geht es um ein Ende der gegenseitigen vorgezogenen Kontrollen und der schädlichen Militarisierung der Grenze. Darüber hinaus fordern viele Organisationen eine Ausweitung der globalen Verteilungsinitiative Großbritanniens für Geflüchtete durch ein humanitäres Visasystem – was neben der Ausweitung der Regeln zur Familienzusammenführung (genauere Vorschläge hier) ebenfalls eine positive Entwicklung wäre.
English version
Over the past year, Channel crossings have become a central issue in British politics. At the same time, they were the occasion for ever new proposals by the British government: accommodation of new arrivals in former military camps (see here), grotesque ideas of pushbacks at sea and floating barriers (see here), forced deportations (see here) and new bilateral agreements with France (see here). Then, in March 2021, Home Secretary Priti Patel published the „New Plan for Immigration“, which incorporates some of these proposals and aims for one of the most restrictive asylum systems in Western Europe (see here). We asked the London-based human rights organisation Refugee Rights Europe to assess the situation. And what can be expected?
When boat passages across the English Channel increased last summer, they seemed to become a central issue in British politics. Have the channel crossings changed British government policy, and if so, how?
The mediatisation of the Channel crossings certainly catalysed the drawing up of policies and agreements both in relation to the UK-France border specifically (eg. the bilateral funding agreement in November on tackling boat crossings) and in relation to wider immigration issues. The country saw shifts in policy around asylum housing (the new use of military barracks, in reality de facto detention centres), asylum processing (new inadmissibility rules) and border controls (reinforcement of security, reintroduction of forced fingerprinting at the juxtaposed controls in Calais) that were often framed as responding to an increase in irregular migration and a need to deter people crossing the Channel by small boat. However, given that the current Home Secretary made it clear from the beginning of her time in office that she was intending to dramatically reform the asylum system, we believe that the media and political hype around Channel crossings was simply instrumentalised, and to some extent orchestrated, by a pre-existing political agenda to harden government policy in relation to migration.
It was reported at the time that the British government was looking into extreme measures, such as a floating barrier in the English Channel, pushbacks at sea or offshore asylum centers on remote islands on the Australian model. How happened to these ideas?
Some of these ideas have been shelved for the moment, whilst some the government has been implemented or is in the process of trying to implement. The more outlandish proposals of wave machines and floating barriers in the sea have not been implemented, although it is unclear whether the government are still looking into such possibilities or whether the proposals were aired simply to send a message that the government was taking a hard stance on Channel crossings.
Operating pushbacks at sea was stalled due to differing interpretations of international maritime law between the French and British governments – as pushbacks would require some form of cooperation from French authorities.
Offshore asylum processing would be made possible by the government’s proposed New Immigration Plan, which allows for people’s claims to be processed abroad. This plan will be put into draft legislation to be voted on by Parliament later this year. However, even if it passes and offshore processing becomes policy, the government so far has no agreements with third countries where people could be sent to be processed, and so the proposal remains unimplementable at least for the moment.
Britain also tried to conclude an agreement with France on refoulement at sea. Do you think there will be such an agreement?
We believe that it is unlikely that such an agreement will be reached in the current political climate. There is currently no incentive for France to accept the push back or return of migrants from the UK when the UK will not be taking in any migrants in return, as it was obliged to do under the Dublin III system. This is also underlined by various EU member states, including France’s recent confirmation that they would not accept bilateral deals with the UK on returns of asylum seekers.
Last autumn, under the name „Operation Sillath“, the government tried to deport as many channel migrants as possible to EU countries before Brexit was completed on 31 December. Did the government succeed?
The government certainly made a concerted effort to remove as many individuals as possible under the Dublin agreement before 31 December, although in reality a very small proportion of people were actually removed. This is likely due to travel complications during the Covid-19 pandemic, EU member states not agreeing to take people back, and people having strong cases against removal. However, we believe that one of the government’s main aims in publicising these returns was to claim to be taking a hard line against irregular migration across the Channel – both in order to defer future migrants and to appease an anti-immigration electorate. In this light, they were successful in giving the appearance of cracking down, even if in reality relatively few returns were effectuated.
At the turn of the year, the situation in the Napier Barracks, where more channel migrants had been housed, escalated – under extremely adverse conditions. Was this a model for future migration policy? And how has the situation there developed since then?
This mode of reception does seem to be a model for future policy, given the government’s New Immigration Plan clearly outlines the intention to establish new reception centres for newly arrived migrants, which would likely resemble the military barracks currently in use. Napier and Penally barracks thus appear to have been a test in a deterrence policy that will be implemented on a wider scale in the future.
As you said before, Priti Patel has published her „New Plan for Immigration“ some weeks ago. How will this plan change the situation of the refugees, especially the situation of channel migrants and exiles in Calais?
Priti Patel’s proposed ‘New Plan for Immigration’ would bring about deeply harmful policies affecting individuals seeking international protection in the UK. Some of the proposals include:
- Establishing a two-tier system which would punish individuals who arrive via irregular means by rendering their claims inadmissible and allowing for their removal;
- Making offshore asylum processing possible, meaning anyone arriving in the UK could be taken to a foreign country and held for the duration of their asylum claim assessment;
- ‘Fast tracking’ decisions so individuals can be deported from the UK more easily.
A more in-depth analysis of the government’s new proposals can be found here.
Developments in the first three months of this year seem to indicate that there could be more successful boat passages than in previous years. Is this being debated politically, and if so, how?
The government appears aware of this trend in the fact that they are already referencing Channel crossings in their framing of the New Immigration Plan, and have published the plan at a time of the year when Channel crossings are likely to be increasing due to improvements in weather conditions. If the Bill is, as predicted, published in the autumn, it will be able to ride off the back of intense press coverage of boat crossings over the summer.
Given that last summer, the proposed policies of interceptions at sea, enforced returns and wave machines etc in the Channel gave the impression that the government was responding strongly to the new trend, it is likely that this summer the government is aiming to be able to do the same through its new proposed legislation.
What do you think needs to be done politically?
We are calling for the introduction of an asylum-related travel document for prospective asylum seekers who arrive at the UK border in France to apply to travel to the UK safely rather than on the back of lorry or rubber dinghy. This would enable the UK to provide a protection solution at its border, addressing the critical bottleneck situation at the UK-France border (in Calais and the surrounding area) which has resulted in inexcusable human suffering and the spending of extortionate sums of UK funds over the decades since the imposition of the juxtaposed controls in the early 1990s.
In the long-run, we want to see an end to the juxtaposed controls and harmful border militarisation. In addition, many organisations are calling for an expansion of the UK’s global refugee sharing initiatives through a humanitarian visa system – which would also be a positive development, in addition to the expansion of family reunion rules (specific recommendations here).