Neue britisch-französische Vereinbarungen
Die Innenminister_innen Großbritanniens und Frankreichs, Priti Patel und Gérald Darmanin, unterzeichneten am 20. Juli 2021 virtuell eine gemeinsame Erklärung zur Bekämpfung der undokumentierten Migration nach Großbritannien. Das Papier beschreibt ein Bündel neuer Vereinbarungen und Absichtserklärungen. Sie betreffen vor allem die personelle, logistische und technologische Aufrüstung des Grenzschutzes in der nordfranzösischen Küstenregion, die von Großbritannien in den Jahren 2021/22 mit weiteren 62.7 Millionen Euro finanziert werden soll. Im Vergleich zu vorausgegangenen Vereinbarungen fällt auf, dass der Überwachungsraum wesentlich weiter gefaßt ist und nun die gesamte französische Nordküste betrifft. Die Bekämpfung der Migration über die Kanalroute wird mit der stärkeren Überwachung der französischen Grenzen zu Italien und Spanien verknüpft und soll künftig durch eine engere Zusammenarbeit mit Belgien, den Niederlanden und möglicherweise auch Deutschland flankiert werden. Nicht zuletzt forcieren Patel und Darmanin die Implementierung neuer und vernetzter Überwachungstechnologien und skizzieren die Idee einer Smart border, die Migrationsversuche automatisch erkennen soll. Calais und die nordfranzösische Küste wären hierfür das Reallabor. Was genau steht in dem Papier?
Hintergrund und Kontext
Das Papier setzen eine Reihe vergleichbarer Vereinbarungen fort, die seit drei Jahrzehnten zunächst sporadisch getroffen wurden und ein bilaterales Grenzregime entstehen ließen, das sich bis 2018 hauptsächlich gegen die Migration im Strom des Güterverkehrs, also auf Straße und Schiene, richtete. Seit etwa einem Jahrzehnt veröffentlichen die jeweiligen Innenminister_innen zudem regelmäßig gemeisame Erklärungen wie die vorliegende. Zuletzt trafen Patel und Darmanin am 12. Juli 2020 öffentlichkeitswirksam in Calais zusammen, nachdem in den Vortagen der von rund tausend Exilierten bewohnte Jungle geräumt worden war (siehe hier und hier). Allerdings enthielt eine in Calais unterzeichnete Vereinbarung wenig Substanzielles. Am 28. November 2020 vereinbarten die beiden Minister_innen dann in einer Videokonferenz u.a. eine personelle Verdopplung und bessere technische Ausstattung der Küstenüberwachung im Gebiet von Boulogne über Calais bis Dunkerque, wofür Großbritannien 31,4 Millionen Euro bereitstellte (siehe hier). Die aktuellen Vereinbarungen knüpfen hieran an.
In der langen Geschichte solcher zwischenstaatlicher Vereinbarungen spielen die Bootspassagen erst spät, nämlich ab 2019, eine Rolle, rückten dann jedoch schlagartig in den Fokus. Die seitherigen Papiere dokumentieren insofern einen – aus Sicht der Innenministerien – starken Nachholbedarf. Trotz ihrer durchgängig offensiven Wortwahl spiegeln sie daher eher eine Situation der Defensive.
Als Patel und Darmanin am 20. Juli ihre gemeinsame Erklärung unterzeichnete und neben den getroffenen Vereinbarungen auch einige politische Zukunftsziele skizzierten, hatten seit Jahresbeginn ungefähr so viele Exilierte den Ärmelkanal in kleinen Booten passiert wie im gersamten Vorjahr. Am 23. Juli stellte die BBC fest: „A group of migrants seen arriving at Dover on Wednesday brought the total number this year to more than the 8,461 who made the crossing in 2020.“ Kurz darauf sprach die Times von etwa 8.900 Bootspassagier_innen seit Jahresbeginn und zitierte eine (aus unserer Sicht durchaus realistische) Prognose der Border Force, dass ihre Zahl bis Jahresende auf etwa 22.000 steigen könnte.
Bereits während des bisherigen Höhepunkts der Bootspassagen im Spätsommer 2020 waren die Channel crossings ein zentrales und konfliktgeladenes Thema der britischen Innenpolitik. Nach einer Reihe extremer und teils grotesker Vorstöße hatte Patel dann am 24. März 2021 den New Plan for Immigration vorgelegt, der sich explizit gegen die Bootsmigrant_innen richtet und mit ihnen gleich alle über die EU einreisenden Asylsuchenden aus dem regulären britischen Anerkennungsverfahren ausschließen soll (neben anderen Vorschlägen wie z.B. Offshore-Asylzentren, siehe hier). Die aktuelle Vereinbarung der beiden Innenminister_innen bezieht sich explizit auch auf diese Agenda. Mit der am 6. Juli in das britische Unterhaus eingebrachten Nationality and Borders Bill ist der New Plan for Immigration inzwischen in ein Gesetzgebungsverfahren gemündet.
Die Kernvereinbarungen und ihre Legitimation
Auch die neue Vereinbarung zielt explizit auf die Migration per Boot und referiert auf die „alarming number of crossings“. Die zu treffenden Maßnahmen werden mit drei fragwürdigen, im Diskurs aber inzwischen etablierten, Argumenten begründet, nämlich der Rettung von Leben, dem Schutz der Migrant_innen vor Schmuggler_innen und der Zerschlagung krimineller Netzwerke [1]. Die Maßnahmen erscheinen dadurch sowohl in einem humanitären Licht, als auch als sicherheitspolitische Herausforderung. Auch die von Patel stereotyp wiederholte, bislang aber jedes Mal eklatant verfehlte, Ankündigung „to make the small boats model unviable“ wird wiederholt. Neu hingegen ist die Warnung vor sozialen Verwerfungen oder gar Unruhen, die angeblich durch die Migration beiderseits des Kanals ausgelöst werden können: „It also creates disruption to local communities on the British side of the Channel and represents a potential source of public order problems on French territory.“ Rechte Aktionen und Provokationen, die seit dem Anstieg der Bootspassagen verstärkt an der englichen Südküste durchgeführt wurden, fließen damit indirekt in die Legitimation ein.
Im Mittelpunkt stehen vier Maßnahmen:
- Nachdem die Überwachung des Küstenabschnitts von Boulogne bis Dunkerque aufgrund der Vereinbarung vom 28. Novemer 2020 bereits verdoppelt wurde, soll nun eine abermalige Verdopplung der Polizeikräfte folgen. Mit dieser Aufstockung will Frankreich den gleichen Küstenbereich nun noch stärker überwachen sowie die Patrouillen nach Südwesten und in das Hinterland ausweiten. Erstmals wird die Region um die Hafenstadt Dieppe in der Normandie als Raum zu verstärkender Küstenüberwachung erwähnt.
- Frankreich wird mehr flächendeckende Überwachungstechnik und dazu notwendige Fahrzeuge einzusetzen, um die Abdeckung der französischen Küste zu erhöhen und das Ablegen von Booten zu verhindern; ausdrücklich genannt wird verstärkte Luftüberwachung.
- Neben der Bekämpfung der Bootspassagen soll in physische Maßnahmen zur Grenzsicherung an wichtigen Verkehrsinfrastrukturen entlang der Kanalküste investiert werden, um die Migration über den Güterverkehr zu bekämpfen. Diese Sicherung geschieht in aller Regel durch die Errichtung oder Aufrüstung von Hochsicherheitszäunen und Überwachungsanlagen an Häfen und Verkersknotenpunkten.
- In ganz Frankreich soll in Aufnahmezentren inverstiert werden, die in einem frühen Statum der Migration auf Asyloptionen hinweisen, Alternativen zur Kanalüberquerung aufzeigen und zu freiwilliger Rückkehr motivieren sollen. Die Vereinbarung dürfte auf einen weiteren Ausbau der CAES genannten Aufnahmezentren abzielen, in die Migrant_innen nach größeren Räumungen in Calais und Grande-Synthe routinemäßig und oft gegen ihren Willen verbacht werden.
Für diese Maßnahmen sagt Großbritannien Gelder in Höhe von insgesamt 62,7 Millionen Euro in diesem und im folgenden Jahr zu. Pro Jahr entspricht dies ungefähr der Summe, die bereits für 2020 vereinbart worden war. Kern der Vereinbarungen ist sowohl inhaltlich als auch finanziell die Fortschreibung des eingeschlagenen Pfades.
Wie bereits in vorausgegangenen Abkommen und Erklärungen, kündigen die Minister_innen außerdem eine Fortführung der polizeilichen Zusammenarbeit an. Im Zentrum stehen weiterhin Ermittlungen gegen organisierte Schmuggler_innen unter Einbeziehung verdeckter und nachrichtendienstlicher Ermittlungsmethoden („by sharing respective covert policing expertise, capacity and capability in support of joint intelligence development and live investigations on each side of the Channel as well as further upstream.“).
Räumliche Ausweitung der Küstenüberwachung
Gleichwohl bleibt das Grenzregime nicht unverändert. Auch wenn der Fokus weiterhin auf die Küstenregion östlich (Boulogne) und westlich (Dunkerque) von Calais gerichtet ist, beziehen die geplanten Maßnahmen nun durchgängig die gesamte französische Nordküste ein. Dies ist eine Reaktion auf die teilweise Verlagerung der Bootspassagen von der relativ kurzen, aber immer stärker überwachten, Meerenge zwischen Calais und Dover hin zu längeren und riskanteren Routen. Diese Verlagerung führte in den vergangenen Monaten zu einer stärkeren Nutzung des Küstenabschnitts zwischen Dunkerque und der belgischen Grenze, der bereits seit dem Frühjahr stärker überwacht wird (siehe hier).
Offenbar wird nun jedoch auch die Region um Dieppe, für die bislang nur über vereinzelte Bootspassagen berichtet wurde (siehe hier), als ein neuer Hotspot begriffen. Bereits in der Vergangenheit hatten Frankreich und Großbritannien Vereinbarungen zur Befestigung der in der Normandie und Bretagne gelegenen Häfen mit Fährverbindungen nach Großbritannien getroffen. Die jetzige Vereinbarung weitet dies nun auf die Küstenüberwachung und ggf. weitere Infrastrukturen aus.
Die räumliche Expansion des Grenzregimes reicht jedoch noch weiter.
Ausweitung auf andere Grenzen und benachbarte Länder
In ihrer Erklärung skizzieren Patel und Darmanin Ansätze einer gemeinsamen Agenda, die weit über die französische Nordküste hinausgreift. So heißt es, beide Staaten unterstützten die Idee eines Rückübernahmeabkommens zwischen Großbritannien und der EU. Ein solches Abkommen würde an die Stelle der Dublin-Verordnung treten, die mit dem Vollzug des Brexit zum 1. Januar 2021 für Großbritannien nicht mehr anwendbar ist, was unmittelbar zur Folge hatte, dass Abschiebungen in EU-Staaten nicht mehr stattfinden konnten. Die gemeinsame Erklärung der beiden Minister_innen präzisiert den Inhalt eines solchen künftigen Abkommens nicht, benennt aber u.a. die Abschreckung ‚illegaler‘ Migration als gemeisames Ziel.
Darüber hinaus formulieren die Minister_innen ihre Absicht, mit weiteren Staaten bilaterale Abkommen zu schließen. Anvisiert werden round table-Gespräche insbesondere mit Nachbarstaaten. Welche Staaten dies sein sollen, sagt das Papier nicht, doch erklärte Darmanin in einem Interview: „Im Endeffekt kommen 60 % der Migranten in Calais aus Belgien. Deshalb müssen wir jetzt die Zusammenarbeit mit unseren belgischen und niederländischen Freunden verstärken. So weit sind wir noch nicht, weitere Treffen sind geplant, insbesondere im September in Cardiff, im Rahmen der G7.“ In der Berichterstattung ist zusätzlich auch von Deutschland die Rede, was durchaus nahe liegt, weil seit Jahren ein großer Teil der über Belgien nach Calais oder Grande-Synthe reisenden Exilierten hier gelebt und sich hier entschieden hat, den Weg nach Großbritannien zu versuchen.
Bi- und trilaterale Vereinbarungen mit Belgien und den Niederlanden sind aus den 2000er-Jahren bekannt und betrafen damals vor allem die Einbeziehung der Fährhäfen (damals z.B. Zeebrugge) und Abfahrtbahnhöfe der Eurostar-Züge (Brüssel). Vergleichbare Abkommen mit Deutschland existieren nicht.
Ein neues Element der gemeinsamen Agenda ist außerdem die Verknüpfung der Kanalregion mit den französischen Grenzen gegenüber Italien und Spanien: „Confronted with unprecedented migration flows at the Southern borders, French authorities have doubled the number of law enforcement border officers deployed at these borders, directly contributing to contain the number of migrants who make it to its northern coasts. These measures, added to the mobilization of active and reservist officers at its border with the UK and an increase in its capacities to provide shelter for asylum seekers, represent an unprecedented effort to disrupt the migration route towards its northern border.“
Darmanin erklärte später im Interview, es gehe darum, „die Quellen der Einwanderung am Eingang zur Europäischen Union und nach Frankreich auszutrocknen. Wir haben die Zahl der Polizeibeamten an der italienischen und spanischen Grenze verdreifacht. Die Zahl der Einreiseverweigerungen für illegale Einwanderer hat sich innerhalb eines Jahres vervierfacht.“
Formuliert wird damit ein Konzept, das Calais und die Kanalregion als Etappe transnationaler Routen begreift und auf die Überwachung aufeinander folgender Grenzregionen setzt. Die französische Südgrenze wird aus dieser Perspektive zu einer zweiten externalisierten Grenze Großbritanniens, eine Art vorgelagertem Filter vor dem Erreichen der in Nordfrankreich errichteten Grenzanlagen sowie der natürlichen Barriere des Ärmelkanals. Aus der gleichen Perspektive werden beispielsweise die Camps am italienischen Grenzort Ventimiglia, die lebensgefährliche Überquerung der Seealpen oder die dort dokumentierten Grenztoten zum integralen Bestandteil einer expandierten britischen Grenze, deren Zentrum und Symbol nach wie vor Calais ist.
Verknüpfung mit dem New Plan for Immigration
Diese Ausweitung der britischen Grenzpolitik auf die französische Südgrenze und auf die östlichen Nachbarstaaten hat auch eine innerbritische Komponente, die in der gemeinsamen Erklärung explizit benannt wird: „The UK government is bringing forward legislation with the key objective of deterring illegal entry into the UK breaking the business model of criminal trafficking networks and saving lives, reducing the attractiveness of the UK as an asylum destination. The New Plan for Immigration introduces measures to strengthen penalties for illegal migration and its facilitation.“
Auch Darmanin betonte die abschreckende Funktion des inzwischen begonnen Gesetzgebungsverfahrens, ging aber noch einen Schritt weiter und sprach von „einer Form von sozialer ‚Attraktivität‘“ innerhalb der britischen Wirtschaft, die „weniger ‚wachsam‘ als wir“ gegenüber „Migranten ohne Papiere“ sei, was übrigens durchaus zutrifft. Darmanins Folgerung: „Im Gegenzug dafür, dass wir bei den Überfahrten strenger sind, verpflichtet sich die britische Regierung, Maßnahmen zu ergreifen, die diese wirtschaftliche Attraktivität einschränken. Dies könnte das Interesse an der Überquerung des Kanals versiegen lassen.“
Von der technisierten Grenze zum Reallabor für Smart borders
Kommen wir zurück zum Kern des Abkommens, nämlich der räumlichen Ausdehnung der Küstenüberwachung, die vor allem durch den Einsatz von High-end-Technologie intensiviert werden soll. Darmanin sprach später von Drohnen, Wärmebildkameras, Nachtferngläsern und geländegängigen Fahrzeugen, einem keineswegs überraschenden Equipment.
Neu dabei ist, dass Patel und Darmanin die technologische Dimension der Grenzüberwachnung nun expressis verbis mit der Idee einer Smart border verbinden, bei der eine flächendeckend implementierte, digital vernetzte Überwachungstechnologie versuchte Migrationsreisen bereits im Ansatz detektiert (sie also beispielsweise von einem touristischen Bootsausflug oder einer sportlichen Aktivität unterscheiden kann) und automatisch an die Behörden meldet:
„Besides the continued strengthening of security measures at border crossing points, our long term approach will encompass the strategic deployment of high-tech devices across areas particularly affected by migratory flows leading to the shared border. The UK and France will combine their efforts to reach a long-term plan for a ‘smart border’ along the coast which builds further on surveillance capabilities by providing networked surveillance technology to inform detections. Cutting-edge technology will identify where crossings are being attempted, directing French law enforcement officers to those locations, thereby stopping migrants from risking their lives in entering the water. An integrated surveillance system will be developed which will enable improved coordination by air, land and sea. At the same time, law enforcement officers need to be equipped appropriately in order to match the traffickers’ adaptability.“
Der Ärmelkanal, die französische Küste und ihr Hinterland könnten damit eine der ersten Regionen im historischen Kerngebiet der europäischen Integration werden, in der Smart border-Konzepte mit migrationspolitischer Zielsetzung eingerichtet werden. Calais und der Raum, den es repräsentiert, würden zum Reallabor dieses sicherheits- und technologiepolitischen Projekts.
Dies aber setzt das Eingeständnis und die Prognose voraus, dass die in den 1990er-Jahren eingetretene Situation, die der Migrationsforscher Michel Agier als prekäres Leben der Exilierten in der ‚Grenzfalle‘ analysiert hat, über einen entsprechend langen Zeitraum fortbestehen wird. Ohne diese perpetuierte Krisenförmigkeit der Grenze, also ohne die Zumutungen der Camps, die bewusste Verknappung der lebens- und migrationswichtigen Ressourcen, die lebensgefährliche (und dadurch auch für das Smart border-Projekt legitimatinsstiftende) Art der Grenzpassage und nicht zuletzt die extralegale Gewaltoption der Polizeikräfte, wären die Investitionen in ein solches Zukunftsprojekt nicht legitimierbar.
Dies bedeutet nicht, dass beide Staaten die Krise um des Reallabors willen (re)reproduzieren, sondern vielmehr, dass ihnen neben der Schwäche ihres Grenzregimes das ökonomische und politische Potenzial der Dauerkrise sehr bewusst geworden ist. Gleichzeitig konterkariert dies jegliche politische Neuverhandlung der Grenzfrage außerhalb der Logik ausufernder Überwachung und gewaltsamer Abschottung.
Darmanin in Calais
Am 25. Juli 2021, dem Samstag nach Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung mit Priti Patel, reiste Gérald Darmanin nach Calais. Er wiederholte damit den symbolpolitischen Akt des vergangen Jahres, als er dort kurz nach seinem Amtsantritt gemeinsam mit seiner britischen Kollegin den mit enormem Aufwand geräumten Jungle besichtigt hatte, so als wäre Calais ein magischer Ort, an dem die Geltung der getroffenen Vereinbarungen beglaubigt und bekräftigt werden müsse.
Darmanin gab das bereits zitierte Interview im Vorfeld dieses neuerlichen Calais-Besuchs. Die Lokalzeitung La voix du Nord veröffentlichte es am 23. Juli exklusiv. Der Minister referierte darin die getroffenen Vereinbarung mit Großbritannien und unterstrich ihren Nutzen für Calais.
Recht offen erklärte Darmanin, dass es in absehbarer Zukunft kein Ende der Krise, ebensowenig aber eine Änderung des eingeschlagenen politischen Weges geben werde. Auf die Frage der Zeitung, ob die angespannte Situation denn dauerhaft so bleiben werde, antwortete er: „Die Anweisung, die ich gegeben habe, um zu vermeiden, dass sich das wiederholt, was die Menschen in Calais vor ein paar Jahren erlebt haben, ist die Festigkeit der Ordnungskräfte. Diese Festigkeit geht mit einer sehr starken Präsenz und Operationen alle 24 oder 48 Stunden einher […].“ Räumungen der prekären Camps im Turnus von 48 Stunden sind in Calais bekanntlich seit mehreren Jahren Routine. Aber Räumungen alle 24 Stunden wären eine Verdopplung dieser zermürbenden Praxis, die weit über ihre in den letzten Monaten zu beobachtende Verschärfung (siehe hier und hier) hinausginge.
Ohne danach gefragt worden zu sein, kam Darmanin auf die dokumentierten Menschenrechtsverletzungen zu sprechen. Er habe die Berichte „des Défenseur des droits [staatliche Ombundsbehörde für Menschenrechte, d.Verf.], der Verbände und der Menschenrechtsorganisationen“ sehr wohl verstanden, „aber die Anweisungen sind klar: Die Polizei der Republik wendet die republikanischen berufsethischen Regeln an. Und wenn sie diese nicht anwenden, ist es die Aufgabe der Hierarchie, sie daran zu erinnern.“
Innerhalb der von starkem Korpsgeist geprägten Hierarchie bleibt die Gewalt aber in aller Regel folgenlos, sofern bestimmte selbstgesetzte Regeln nicht verletzt werden. Die neuen zwischenstaatlichen Vereinbarungen sind ohne die stillschweigende Hinnahme dieser Gewalt nicht vorstellbar. Darmanins Äußerung lässt eine weitere Erosion rechtstaatlicher und menschenrechtlicher Normen erwarten. Zur Lage der Menschenrechte sagen er und Patel in ihrer gemeinsamen Erklärung übrigens kein einziges Wort.
Anmerkung:
[1] Erstens: In diesem Jahr wurde ist noch kein Todesfall während einer Bootspassage dokumentiert, allerdings ein Vermisstenfall und das Auffinden der Leichen von zwei im Vorjahr ertrunkenen Personen. Die Gefahr, bei Migrationsversuchen per Lastwagen oder Zug zu sterben, war in der Vergangenheit wesentlich höher als bei Booten. Allerdings führt die stärkere Überwachung zu Verlagerungen der Routen macht diese durch längere Diszanzen riskanter. Zweitens: Zwar geschieht ein großer Teil der Bootspassagen im Rahmen kommerziell angebotener Schleusungen, die durchaus ausbeuterische Züge besitzen (was sich in der lokalen Bezeichnung mafias für ihre Anbieter_innen spiegelt), allerdings wichen Menschen, die eine solche Passage nicht bezahlen können, wiederholt auf hochriskante Techniken zur Kanalüberquerung aus, was ihr Risiko erhöhte und zu Todesfällen führte. Drittens: Die Zerschlagung krimineller Netzwerke wiederum ist ein seit Jahren postuliertes Ziel, das trotz zahlreicher Festnahmen und gerichtlicher Verurteilungen bislang keine signifikante Wirkung zeigte, sofern man den stetig wachsenden Markt solche Dienstleistungen als Indikator ernst nimmt.