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Channel crossings & UK

Notrufe ins Leere

Neue Erkenntnisse zur tödlichen Havarie am 24. November 2021

Wir haben an dieser Stelle mehrfach über die Havarie berichtet, die am 24. November 2021 mindestens 27 Menschen inmitten des Ärmelkanals das Leben kostete (siehe hier, hier, hier und hier). In den Wochen danach griffen wir Berichte der beiden Überlebenden auf, denen zufolge die Menschen auf dem havarierten Boot bereits frühzeitig Notrufe abgesetzt hatten, jedoch stundenlang keine Rettung erfolgte. Ihre Anklage, die von verschiedenen Indizien gestützt wurden, ging noch weiter: Die französischen und britischen Leitstellen hätten wechswelseitig behauptet, das Boot befände sich um Gebiet des jeweils andere Staat und dieser sei für die Rettung zuständig (siehe hier, hier und hier). Bis heute ist nicht genau bekannt, was in den Nacht- und Morgenstunden des 24. November geschah, doch bestätigen Recherchen von France Inter die Aussagen der Überlebenden nun in einem wesentlichen Punkt.

Am heutigen 15. Februar 2022 veröffentlichte France Inter, ein Programm des öffentlich-rechtlichen Senders Radio France, Rechercheergebnisse eines hauseigenen Investigationsteams. Der Bericht referiert zunächst die bisherige Darstellung der französischen Seepräfektur, der die zustündige Rettungsleistelle CROSS Griz-Nez untersteht. Demnach habe diese „erst am 24. November um 14 Uhr von der Havarie erfahren, als ein Fischerboot die leblosen Körper der Migranten entdeckt hatte.“ Diese Darstellung war nach der Katastrophe rasch von nationalen und internationalen Medien übernommen wurden. Im irakisch-kurdische Sender Rudaw widersprachen die beiden Überlebenden dieser Version jedoch vehement und erklärten unabhängig voneinander, dass bereits im Laufe der Nacht Notrufe getätigt worden seien, die französischen Stellen jedoch auf die britischen verwiesen hätten und umgekehrt. Zwischen den ersten Notufen und dem Beginn der Rettungsoperation verging demnach ein halber Tag, und in genau diesen Stunden starben, zählt man die Vermissten mit, 29 der 31 Passagier_innen.

Auf diese Aussagen und weitere Recherchen gestützt, erstattete Utopia 56 im Dezember Strafanzeige gegen die potenziell verantwortlichen Behörden, darunter die französischen und britischen Leitstellen, um eine juristische Aufklärung zu erzwingen. Bereits nach der Havarie hatten außerdem staatsanwaltschaftliche Ermittlungen der juridiction nationale de lutte contre la criminalité organisée (Junalco) begonnen, die sich in vorrangig gegen Schleuser_innen richteten.

Wie France Inter unter Berufung auf eine anonyme Quelle nun erfahren hat, bestätigen die bisherigen Ermittlungen, „dass einige der Migranten in dieser Nacht sehr wohl die Nummer 196, die Nummer der CROSS, gewählt hatten, um Hilfe zu rufen. Diese Quelle erklärte, dass der Austausch auf Englisch stattgefunden habe, einer Sprache, die die irakischen Kurden auf dem Schiff und der Bereitschaftsbeamte der CROSS Gris-Nez sehr gut beherrschten.“ Die Sprecherin der Seepräfektur, Véronique Magnin, räumte gegenüber dem Sender ein, „dass dieser Telefonkontakt ‚sehr wahrscheinlich‘ sei“.

Dem Bericht zufolge übermittelte das CROSS im Rahmen der Ermittlungen „5.000 Aufnahmen“ an Junalco, was „der Nacht und dem Tagesbeginn des 24. November“ entspreche und die Kommunikation mit Handelsschiffen und Fischerbooten ebenso beinhalte wie mit Geflüchteten auf See. „Ihre Analyse wird entscheidend dafür sein, wie die französischen Rettungskräfte reagierten, als sie von den in Seenot geratenen Migranten kontaktiert wurden.“ Als hypothetische Gründe für die nicht erfolgte Rettung führte die Seepräfektur gegenüber dem Sender an, Rettungskräfte könnten die Havarierten nicht entdeckt oder im gleichen Seegebiet einem anderes Boot zur Hilfe gekommen sein. Tatsächlich fanden in der Nacht besonders viele Überfahrten und mehrere Rettungseinsätze statt.

Für den Sender – und nicht nur für ihn – muss nun erst recht aufgeklärt werden, warum die Notrufe ins Leere liefen. Das gleiche gilt für die Frage, im Hoheitsgebiet welches Staates sich das Boot zum Zeitpunkt der Notrufe befand und ob die Verunglückten tatsächlich zwischen beiden Ländern hin- und herverwiesen wurden, bevor sie starben. Diesen Vorwurf bestreitet die Seepräfektur nach wie vor.