Direkte Folgen des Urteils
Obwohl der britische High-Court den Migrationsdeal der Regierung zur Deportation von Asylsuchenden nach Ruanda für grundsätzlich zulässig erklärt hat, sind in nächster Zeit keine Abschiebeflüge nach Ruanda zu erwarten. Es ist davon auszugehen, dass die Kläger_innen das Urteil in den beiden nächsthöheren Instanzen, dem Court of Appeal und schließlich dem Supreme Court anfechten, und das Urteil erst nach diesem Berufungsverfahren rechtskräftig wird. Bis dahin (genauer gesagt bis drei Wochen nach Rechtskraft des endgültigen britischen Urteils) bleiben die Abschiebeflüge nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 15. Juni 2022 ausgesetzt.
Selbst wenn danach der Ruanda-Deal umgesetzt wird, haben die ursprünglich für den ersten Abschiebeflug vorgesehenen Menschen eine gute rechtliche Chance, sich gegen Deportation nach Ruanda erfolgreich zu wehren: Während der High Court keine grundsätzlichen rechtlichen Hürden gegen den Ruanda-Plan erkennen mochte, hat er die Entscheidung in den Einzelfällen als unangemessen eingestuft und eine erneute Entscheidung angeordnet.
Auswirkungen auf den Ruanda-Plan und darüber hinaus
Dass sich Jurist_innen und zivilgesellschaftliche Organisationen von dem Urteil enttäuscht zeigen und es als Niederlage für die Menschenrechte werten, liegt an der grundsätzlichen Bedeutung des Urteils und seiner Begründung.
Zum einen hat das Gericht es abgelehnt, selbst zu entscheiden, ob Ruanda ein sicherer Staat ist oder nicht. Es hat also nicht geprüft, ob die Entscheidung des Innenministeriums, Ruanda als sicheren Staat einzustufen, sachlich richtig ist, sondern nur, ob sie rechtlich zulässig getroffen worden ist. Rechtsfehlerhaft wäre die Entscheidung des Ministeriums aus Sicht des Gerichtes also nur gewesen, wenn das Innenministerium die Entscheidung in einem nicht nachvollziehbaren Verfahren getroffen hätte, oder aber das Ergebnis so fern liegend gewesen wäre, dass jeder rational agierende_r Innenminister_in zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.
Diese vom High Court beschlossene Selbstbeschränkung der Justiz wird einer der zentralen Streitgegenstände in den nächsten Gerichtsinstanzen sein. Sollte sie Erfolg haben, wirft sie zwei weitreichende Probleme für die künftige rechtliche Überprüfbarkeit von migrationspolitischen Entscheidungen und dem auf ihnen fußendem Verwaltungshandeln auf: Es verlagert die Bewertung von Tatsachen auf die weniger formalisierte Ebene der Verwaltung, und räumt dieser gleichzeitig einen weitgehenden Ermessensspielraum ein.
Eine solche Verlagerung der Tatsachenbewertung ausschließlich auf die Verwaltung begegnet nicht nur dem politischen Bedenken, dass das Innenministerium bei der Berücksichtigung von Problemen hinsichtlich der Sicherheitslage in Ruanda einem Zielkonflikt unterliegt: Kommt es zu einem ungünstigen Ergebnis, müsste es ein zentrales politisches Projekt scheitern lassen. Sie hat auch für die Betroffenen massive Konsequenzen, sie müssen sich ihr rechtliches Gehör bereits im reinen Verwaltungsverfahren verschaffen, wo sie in der Regel nicht von Anwält_innen beraten werden. Eine der von Jurist_innen am schärfsten angegriffene Begründung des Urteils ist daher, dass der High Court ein faires Verfahren bereits dann bejaht hat, wenn es statt eines formal rechtlichen Gehörs mit Rechtsbeistand vor Gericht ein faktisches vor der Verwaltung gegeben hat. Es bleibt abzuwarten, wie weit diese Verlagerung gehen wird: Der High Court hat den Kläger_innen zwar keine über die generelle Ermessensentscheidung des Innenministeriums hinausgehende inhaltliche Prüfung zugestanden, ob Ruanda ein sicherer Staat sei, hat aber in den Einzelfällen doch gegen eine Verbringung nach Ruanda entschieden.
Bei der Verteidigung seiner generellen Entscheidung für Ruanda setzte das Innenministerium vor Gericht das Memorandum of Understandig vom 14. April 2022, mit dem die britische und die ruandische Regierung den Migrationsdeal beschlossen haben, übrigens als Joker gegen jedwedes Bedenken ein. Die Erfahrungen eines früheren ruandisch-israelischen Deals müssten bei der Bewertung nicht berücksichtigt werden, denn der britisch-ruandische Deal fuße auf einer anderen Vereinbarung. Das gewaltsame Vorgehen der ruandischen Polizei gegen Bewohner_innen des Camps Kiziba in 2018 mit elf Toten sei nicht relevant, denn unter den Bedingungen des Memorandums of Understandings deportierte Exilierte aus Großbritannien würden so gute Lebensbedingungen vorfinden, dass sie keinen Anlass für Proteste haben würden. Letztlich wird das erwartete Verhalten der ruandischen Behörden gegenüber den Deportierten lediglich aus dem Memorandum of Understandig abgeleitet, sodaß Zweifel an Ruanda als Partner überhaupt erst dann aufkommen könnten, wenn die ersten Menschen dorthin verbracht worden sind.
Recht, Politik und Kampagnen
Das Vertrauen, das das Gericht in die Entscheidungsprozesse des Innenministeriums setzt, und auf dessen Basis es sich einer inhaltlichen Prüfung entzieht, erstaunt nicht nur mit Blick auf die erwartete Wirkung der Vereinbarung, sondern auch mit Blick auf die Qualität der Einzelentscheidungen der für den ersten Abschiebeflug vorgesehenen Menschen: Bei ihnen wurden teilweise Akten durcheinandergebracht. Die Bescheide zur Verbringung nach Ruanda enthielten Aussagen, die jeweils nicht der Betroffene, sondern eine andere Person gemacht hatte (siehe Urteil, Absatz 181).
Dass das Gericht die Einzelentscheidungen aufgehoben hat, ist daher folgerichtig. Aus Sicht des Gerichtes war das Verwaltungsverfahren, mit dem die Betroffenen für eine Deportation nach Ruanda ausgewählt wurden, bereits rechtsfehlerhaft, so dass es sich mit den tatsächlichen Bedenken nicht mehr auseinandersetzen musste. Freemovement.org sind in ihrer Analyse des Urteils über diese Fehler in der Verwaltung im übrigen extrem erstaunt. Sie sehen eine erhebliche Gestaltungsmacht der Regierung darin, dass diese ja die Kandidaten für den ersten Abschiebeflug selbst ausgesucht hat, also mithin großen Einfluss auf die möglichen Argumente hatte, die bei der erwarteten Klage und der darauf folgenden Grundsatzentscheidung zur Sprache kommen würden. Umso mehr erstaunt die Nachlässigkeit, mit der die Einzelfälle im Verwaltungsverfahren bearbeitet worden sind.
Es besteht die Möglichkeit, dass die Regierung mit dem Ruanda-Deal in den nächsten beiden Instanzen doch noch scheitert; sie wird von Beobachter_innen allerdings als gering eingestuft. So wird es voraussichtlich in einigen Monaten Abschiebeflüge nach Ruanda geben, allerdings in extrem geringer Zahl. Aktivist_innen weisen darauf hin, dass Großbritannien im Rahmen aller bisherigen Rücknahmeabkommen im Jahre 2021 nur 113 Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerber_innen durchführen konnte, für 2022 wird eine nur wenig höhere Zahl erwartet. Die Aussicht auf eine Verbringung nach Ruanda wird – mit Ausnahme der Betroffenen, an denen das Exempel statuiert wird – vor allem der Abschreckung dienen. Dass diese angesichts der geringen Fallzahl einen Rückgang der Channel crossings bewirkt, darf bezweifelt werden, so dass sich die Verschärfung der Abschreckungspolitik fortsetzen dürfte.