Ende Mai veröffentlichten französische NGOs in der Libération die gemeinsame Erklärung A la frontière franco-britannique, la mort n’est pas une fatalité (An der britisch-französischen Grenze ist der Tod kein unabwendbares Schicksal). Damit wollen sie den Blick auf die Zunahme von Todesfällen in vergangenen Halbjahr lenken, den sie als Folge migrationspolitischer Fehlentscheidungen deuten. Zugleich unterstützten sie einen Vorstoß französischer Abgeordneter nach einer parlamentarischen Untersuchung zum Vorgehen der Ordnungskräfte und zur Lage der Menschenrechte im französisch-britischen Grenzraum. Lokale Initiativen legen währenddessen weitere Belege für ein gewaltsames Vorgehen gegen ablegende Schlauchboote vor.
Schlagwort: Migrationspolitik
Früher als erwartet, findet die britische Parlamentswahl bereits am 4. Juli 2024 statt. Mit der Ankündigung des Termins startet die heiße Phase das Wahlkampfs, in dem Migrationspolitik eine wesentliche Rolle spielen wird. Premierminister Sunak kündigte an, die Wahl auch zur Entscheidung darüber zu machen, ob Abschiebeflüge nach Ruanda starten werden oder nicht. Dabei räumte er am 23. Mai indirekt ein, dass seine Regierung es nicht schaffen werde, bis zum Wahltag mit den Abschiebungen zu beginnen; dies werde vielmehr erst geschehen, „wenn ich am 4. Juli wiedergewählt werde.“ Nun sprechen die Prognosen eindeutig gegen eine Wiederwahl Sunaks. Sie sehen die Labour Party als potenziellen Wahlsieger, und diese hat sich bereits darauf festgelegt, den Ruanda-Deal nicht weiter verfolgen zu wollen. Damit dürfte der migrationspolitische Tabubruch Großbritanniens seinem Ende zugehen.
Auf dem Irrweg
Migrationspolitik nach der Ratifizierung des Ruanda-Deals
Seit Ende April greift die britische Regierung zu Maßnahmen gegen sogenannte Illegale, die in liberalen Demokratien beispiellos sind: Nachdem Ruanda per Gesetz zum sicheren Drittstaat erklärt wurde, werden Geflüchtete inhaftiert, um sie im Sommer dorthin auszufliegen. Ein System zur Unterbringung Schutzsuchender verwandelt sich in ein System der Haft. Ein Teil der Betroffenen verlässt das Land und reist über die irische Landgrenze wieder in die EU ein, die sie mit der Passage des Ärmelkanals verlassen hatten. Irland kündigt Notstandsmaßnahmen an. Internationale Organisationen protestieren scheinbar folgenlos. Es ist ein Szenario, als würden Rassemblement National in Frankreich oder AfD in Deutschland die Agenda setzen. Was bedeutet dies? Für diejenigen, die per Boot oder Laster nach Großbritannien eingereist sind, sind die Folgen existenziell: Verlust der Freiheit. Abschiebung in ein Land, in das sie nie wollten. Scheitern der Reise, für die sie Leben und Besitz riskiert haben. Für manche noch Schlimmeres. Doch auch für liberale Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit bedeutet der britische Irrweg eine Bedrohung. Wir versuchen einen Überblick.
Ruanda, Plan B
Britischen Medien zufolge arbeitet die britische Regierung an einem alternativen Verfahren, um illegalisierte Migrant_innen nach Ruanda zu verbringen. Anders als der bisherige Ruanda-Deal, der die zwangsweise Deportation in das afrikanische Land und den Ausschluss der Betroffenen aus britischen Anerkennungsverfahren vorsieht, soll das neue Verfahren auf freiwilliger Basis erfolgen und sich an ein gescheitertes Anerkennungsverfahren anschließen. Außerdem ist von einem finanziellen Anreiz die Rede. Das Vorhaben ist jedoch keine Abkehr vom bisherigen Ruanda-Deal, der parallel dazu weiter verfolgt wird.
Eine toxische Verheißung
Das „Ruanda-Modell“ in den Europawahl-Programmen deutscher Parteien. Ein Überblick
Seit dem 13. April 2022 verfügt Großbritannien über eine Vereinbarung mit Ruanda. Sie soll Channel migrants den Zugang zu einem britischen Anerkennungsverfahren verwehren und sie gegen ihren Willen in das afrikanische Land transportieren, wo sie dann ein Verfahren nach dortigem Recht durchlaufen können. Bekanntlich sind bislang alle Versuche gescheitert, das Programm umzusetzen (siehe hier, hier, hier und hier). Ausgehend von der rechtsextremen AfD, haben mehrere deutsche Parteien es dennoch in die Programme aufgenommen, mit denen sie zur Europawahl am 6. Juni 2024 antreten. Hier ein Überblick über die Normalisierung eines toxischen Konzepts.
Im Jahr 2023 ist die Zahl der Bootspassagen erstmals deutlich zurückgegangen. Hatten 2022 noch etwa 46.000 Menschen den Ärmelkanal auf diese Weise überquert, waren es 2023 knapp 30.000 und damit nur geringfügig mehr als 2021. Bis dahin hatte die Zahl der Passagen von Jahr zu Jahr zugenommen, worauf die britische Regierung mit einer Abkehr von sicher geglaubten Mindestnormen in der Asylpolitik reagierte. Analysiert man die Situation jedoch genauer, so zeigt sich, dass das Jahr 2023 wohl kein Wendepunkt hin zu einer allmählichen Schließung der Kanalroute war. Auch lässt sich der Rückgang nicht allein als Erfolg der Stop the baots-Politik der britischen Regierung erklären. Hier ein Rückblick auf das vergangene und einige Thesen zum begonnenen Jahr.
Trotz des einstimmigen Urteils des Obersten Gerichtshof vom 15. November 2023, welches die Abschiebung von Asylbewerber*innen nach Ruanda als rechtswidrig erklärte, stimmte das britische Unterhaus am 15. Dezember 2023 für ein Gesetzesvorhaben der Regierung, welches den Ruanda-Deal zu retten versucht und dabei das Urteil des Obersten Gerichtshof umgeht.
Die „Drittstaatenlösung“ im Entwurf des neuen CDU-Parteiprogramms
Im Laufe des Herbstes traten Politiker der CDU mit Statements an die Öffentlichkeit, Asylsuchende nach britischem Vorbild in Vertragsstaaten auszulagern. Zur gleichen Zeit stellte der britische Supreme Court die Rechtswidrigkeit des britischen Ruanda-Deals fest (siehe hier), worauf die Londoner Regierung ein verändertes Agreement mit Kigali aushandelte. (Ein Beitrag hierzu folgt.) Inzwischen hat die Programm- und Grundsatzkommission der CDU eine sogenannte „Drittstaatenlösung“ nach dem Muster des Ruanda-Deals in den Entwurf eines neuen Parteiprogramms aufgenommen. Eine künftige Bundesregierung unter Führung der CDU könnte damit einen Systemwechsel in der Flüchtlingspolitik versuchen, der einem Bruch mit bestehenden Schutzrechten gleichkäme. Wir dokumentieren das migrationspolitische Kapitel des Programmentwurfs.
Während in der deutschen Migrationsdebatte Forderungen nach Asylpartnerschaften mit Drittländern laut werden, steht das Urteil zum umstritten Plans der britischen Regierung noch aus – wird jedoch für die kommende Woche erwartet. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Großbritanniens über die Rechtmäßigkeit der Abschiebung von Asylbewerber*innen nach Ruanda könnte dabei auch wegweisend für ähnliche Vorhaben in der deutschen Migrationspolitik sein. Wir nehmen es deshalb als Anlass, die wichtigsten Informationen und Entwicklungen zum britischen Ruanda-Deal hier zusammenfassen.
Zum zweiten Mal startete die britische Regierung am 20. Oktober 2023 die Unterbringung von Geflüchteten auf dem Schiff Bibby Stockholm im Hafen von Portland an der südenglischen Kanalküste. Ein erster Versuch, das Schiff als Massenunterkunft zu nutzen, war Anfang August gescheitert. Damals waren zunächst Brandschutzmängel vermutet und kurz darauf eine Legionellen-Belastung der Trinkwasserleitungen festgestellt worden (siehe hier). Das Hin und Her um die Belegung des Schiffs fand starken medialen Widerhall bis hinein in deutsche Nachrichtenformate. Weniger beachtet wurde, dass währenddessen die Unterbringung in einer anderen Massenunterkunft weiterging. Betroffene klagten dort über Bedingungen, die ihnen wie eine Inhaftierung erschienen.