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Calais

„Sind wir in Europa? Wir sind im Jungle.“

Polizeiverhalten während einer Räumung im Jungle, August 2020.

Ein heute veröffentlichtes YouTube-Video zeigt einen Polizeieinsatz in Calais aus der Perspektive der Betroffenen. Die Aufnahmen dokumentieren das aggressive Verhalten gegen eine Bewohnerin des Jungle und gegen ihre minderjährige Tochter. Auch andere Gewaltakte wie das gezielte Sprühen von CS-Gas gegen den Kopf einer Person sind zu sehen. „Sind wir wirklich in Europa? Wir sind im Jungle“, heißt es im Untertitel des Films, was sehr genau auf den Punkt bringt, dass menschenrechtliche Normen an diesem Ort suspendiert sind.

Das Video entstand auf einem Gelände nahe des Calaiser Krankenhauses, wohin sich die größeren sudanesischen und afghanischen Camps nach der Räumungswelle im Juli verlagert haben und das seitdem als neuer Jungle bezeichnet wird (siehe hier). Im Film selbst wird nicht gesagt, dass er an diesem Ort aufgenommen wurde. Aber es sind Gebäude und andere topographische Anhaltspunkte erkennbar, die wir mit Satellitenaufnahmen abgleichen konnten und die damit eine eindeutige Lokalisierung zulassen. Die Echtheit der Aufnahmen steht für uns außer Zweifel. Aus Calais erfuhren wir auf Nachfrage, dass das Video am 26. August 2020 aufgenommen worden sei.

Der Film ist mit einem Untertitel versehen, der das Geschehen aus Sicht der betroffenen Frau beschreibt. Es wird deutlich, dass es sich um eine jener Räumungen handelt, die nicht auf die Auflösung eines Camps zielen, sondern meist alle zwei Tage durchgeführt werden, um eine (physische und rechtliche) Verfestigung zu verhindern. Die Bewohner_innen sind dann gezwungen, ihre Zelte fortzutragen, wenn sie nicht riskieren wollen, dass diese zerstört oder entsorgt werden – um das Camp danach an gleicher Stelle wieder zu errichten (siehe hier). Genau mit diesem In-Sicherheit-Bringen der Zelte beginnt der Film.

Etwas später liegt die Erzählerin am Boden, umringt von Beamten der Gendarmerie. Sie schützt ihren Kopf mit den Händen. „Zwei Polizisten sind auf mich zugekommen und haben mich zu Boden gestoßen. Dann haben sie mich an den Beinen gepackt und wie einen großen Sack gezogen“, schreibt sie im Untertitel. Eine andere Frau kniet sich zu ihr hinunter, offenbar um zu helfen, und wird gehindert.

Danach ist zum ersten Mal die Tochter zu sehen, zunächst scheint sie mit Polizisten diskutieren zu wollen. In der nächsten Sequenz befindet sie sich abseits auf einer Brachfläche, wird von Polizisten festgehalten, einer kommt auf die Kamera zu, um das Filmen zu unterbinden. Man muss genau hinschauen, um zu erkennen, dass hier die Festnahme des Mädchens beginnt. Die nächsten Aufnahmen zeigen das Mädchen auf einem Asphaltweg im Camp, stehend inmitten eines Pulks von Beamten. Greif- oder Schlagbewegungen auf das Kind sind zu sehen. „Sie haben meine Tochter geschlagen und brutal zu Boden gestoßen. Drei Polizisten waren dran, einer hat sich sogar auf ihren Kopf gesetzt.“ Mehrere Sequenzen zeigen das am Boden liegende Kind, zunächst von mehreren Beamten fixiert, dann nur noch von zweien, bis es in Handschellen weggebracht wird. „Wie ist das alles überhaupt möglich? Sind wir wirklich in Europa? Wir sind im Jungle.“

Die nächsten Aufnahmen zeigen protestierende Bewohner_innen des Camps. Langsam bewegen sich die Gendarmen rückwärts, aus dem Inneren des Camps hinaus. Dann bilden sie eine Absperrung. Ein Mann bewegt sich von ihnen fort. Ein Beamter zieht eine CS-Gas-Kartusche und besprüht den Mann in Kopfhöhe, ohne jeden ersichtlichen Anlass. Der gezielte Einsatz dieses chemischen Kampfstoffes gegen den Kopf einer Person ist illegal, wurde in Calais aber immer wieder dokumentiert. Der Film endet mit einem Beweisstück: einer am Boden liegenden Kartusche.

I need my bagage, lautet der Titel des über social media rasch verbreiteten Videos. Am Ende erklärt die Frau: „Sie haben mein Zelt kaputt gemacht und meinen Schlafsack und meine Kleider weggenommen. Das haben sie in einen Müllwagen geschmissen und weggefahren.“ Auch diese strukturelle Form der Gewalt – denn nichts anderes sind die Wegnahme des Eigentums und die offene Demütigung, die mit seiner Entsorgung als Müll kommuniziert wird – ist rassistischer Alltag in Calais.

Übersetzung des Videos

Alle zwei Tage vertreibt uns die Polizei von unserer Schlafstelle in Richtung Straße. Normalerweise kommen die Polizisten um 8:30 Uhr.

Heute um diese Zeit waren wir schon aus dem Zelt. Sie waren zu allem bereit. Wir standen neben unseren Zelten. Zwei Polizisten sind auf mich zugekommen und haben mich zu Boden gestoßen. Dann haben sie mich an den Beinen gepackt und wie einen großen Sack gezogen. Ich bin eine Frau, warum tun sie mir das an? Sie haben meine Tochter geschlagen und brutal zu Boden gestoßen. Drei Polizisten waren dran, einer hat sich sogar auf ihren Kopf gesetzt. Es ist ein junges Mädchen. Warum wird ihr Kopf von einem Polizisten erdrückt? Wie ist das alles überhaupt möglich? Sind wir wirklich in Europa? Wir sind im Jungle. Haben wir sie bedrängt? Wir haben nichts Böses getan. Sie wollen uns nur unterdrücken. Die Polizei hat es nicht nötig, uns anzugreifen und unsere Zelte zu zerstören. Sie haben mein Zelt kaputt gemacht und meinen Schlafsack und meine Kleider weggenommen. Das haben sie in einen Müllwagen geschmissen und weggefahren.

Wir sind keine Flüchtlinge (réfugiés), wir sind Exilierte (exilés). Warum greifen sie uns grundlos an? Frankreich ist ein europäisches Land. Es muss sich an Regeln halten und nicht so brutal handeln …

Übersetzung: Nicole Guyau