Kategorien
Channel crossings & UK

Hohe Chance und fragile Sicherheit

Zur Dynamik der Kanalroute im Spätsommer 2020

Im August 2020 hat die Dynamik der Bootspassagen über den Ärmelkanal erwartungsgemäß weiter zugenommen, um sich im September fortzusetzen. Wie bereits im gesamten Jahresverlauf (siehe etwa hier, hier und hier) melden britische Behörden und Medien einen neuen Höchstwert erfolgreicher Channel crossings: 5.385 Menchen erreichten zwischen dem 1. Januar und 6. September erfolgreich britisches Hoheitsgebiet. Allein im August wurde die Ankunft von ungefähr 1.500 Menschen (BBC: 1.468 bzw. Sky News: 1.562 Personen) registriert. Am 2. September erreichten über 400 Migrant_innen in 27 Booten die Insel, nachdem stürmisches Wetter die See in den Tagen zuvor schwer passierbar gemacht hatte. Beide Zahlen sorgten als neue Monats- bzw. Tagesmaxima für Schlagzeilen. Was aber verraten die Zahlen darüber hinaus?

Die seit Herbst 2018 bei jahreszeitlich bedingten Schwankungen stetig ansteigende Zahl zeigt zunächst, dass das motorisierte Schlauchboot spätestens in diesem Jahr zum Mittel der Wahl für die klandestine Querung des Kanals geworden ist.

Dabei ist die Chance einer erfolgreichen Migration deutlich gestiegen, wie ein Vergleich britischer und französischer Daten belegt: So berichtete Dan O’Mahoney, der kürzlich ernannte Clandestine Channel Threat Commander des britischen Innenministeriums, die französischen Behörden hätten seit Jahresbeginn die Überfahrt von etwa 3.000 Personen verhindert. Die französische Nachrichtenagenur AFP sprach im gleichen Kontext sogar von lediglich 1.200 Personen (vgl. InfoMigrants). Am 2. September, dem Tag also, als je nach Quelle 409 bzw. 416 Bootspassagiere Großbritannien erreichten, wurden O’Mahoney zufolge 200 in Frankreich gestoppt. Kurz darauf, am 7. September, lag das Verhältnis ähnlich bei 223 erfolgreichen zu 106 unterbundenen Passagen. Auf einen gescheiterten Passageversuch entfallen damit rechnerisch momentan zwischen 1,8 und 2,1 gelungene. Legt man die von AFP gemeldete Zahl zugrunde, beträgt das Verhältnis sogar 1 zu 4,4. Doch auch wenn wir den geringsten Wert dieser Spanne ansetzen, so ist dies die höchste Erfolgsquote in der Geschichte der klandestinen kontinentaleuropäisch-britischen Migration. Noch im Mai dieses Jahres hatte die seit 2014 in Calais tätige Aktivistin Maya Konforti in einem Interview mit diesem Blog von einer Fifty-fifty-Chance gesprochen. Im gleichen Zeitraum veröffentliche Daten über das Verhältnis gelungener zu gescheiterten Passageversuchen bestätigten diese bereits damals außergewöhnlich positive Schätzung.

Zum Vergleich: Wenn wir in den Jahren 2016 bis 2016 in Calais nach Erfolgaussichten fragten, war die gängige Antwort, dass es vielleicht eine Handvoll Leute im Monat nach Großbritannien schafften. Monatelanges Ausharren in den Camps, nicht selten länger als ein Jahr, war ebenso normal wie die Entscheidung, den Versuch aufzugeben und sich beispielsweise als Sans papiers in Frankreich durchzuschlagen. Das gängige Transportmittel dieser Periode waren Lastwagen und andere Straßen- bzw. Schienenfahrzeuge. Todesfälle gab es durchschnittlich einmal im Monat, meist im Zusammenhang mit dem Autobahnverkehr.

Damit wird noch eine andere Realität sichtbar, nämlich die relative Sicherheit der Kanalroute im Gegensatz zu den Lastwagen. Dies bedeutet nicht, dass die Bootspassagen nicht lebensgefährlich seien – dies sind sie allein aufgrund der nautischen und meteorologischen Verhältnisse sowie der hohen Verkehrsdichte an der Engstelle des Ärmelkanals zwischen Calais und Dover. Allerdings sind für den Zeitraum von Anfang 2019 bis heute, in dem etwa 7.400 Bootsflüchtlinge die Meerenge passierten, lediglich fünf Todesfälle bekannt geworden, von denen sich vier bei der Anwendung hochriskanter Techniken ereigneten (siehe hier und hier). Die Wahrscheinlichkeit, eine Bootspassage des Kanals nicht zu überleben, liegt also selbst dann, wenn wir ein gewisses Dunkelfeld annehmen, in der Größenordnung von 0,1 % oder darunter. Nach Daten des UNHCR lag der Anteil verstorbener oder vermisster Migrant_innen im Mittelmeer zwischen 2014 und 2018 zwischen 1 % und 1,8 % (abweichend 0,4 % in 2015), also um das Zehn- bis Zwanzigfache höher.

Natürlich kann sich dies jederzeit ändern, auch weil die kalte Jahreszeit bevorsteht. Wer die lokale Berichterstattung in der Gegend von Calais verfolgt, findet regelmäßig Meldungen über Rettungseinsätze der französischen Küstenwache, weil vollbesetzte Schlauchboote in Seenot geraten oder Menschen auf untaugliche Mittel bis hin zu Surfbrettern, Kanus und Bojen zurückgreifen (vgl. exemplarisch La Voix du Nord v. 4.8. u. 3.9.2020, zusammenfassend InfoMigrants). Die im Vergleich etwa zum Mittelmeer, aber auch zu den Lastwagen, niedrige Zahl der bisherigen Todesopfer dürfte daher nicht zuletzt der Erfolg einer gut organisierten und koordinierten Seenotrettung beider Staaten sein, deren Verantwortungsbereiche im Ärmelkanal außerdem unmittelbar aneinander grenzen, sodass es dort keine Zwischenzone internationaler Gewässer gibt.

Die Absicht der britischen Regierung unter Premierminister Boris Johnson und Innenministerin Priti Patel hingegen, die Kanalroute durch eine Mischung aus See-, Luft- und Vorfeldüberwachung, Schleuserbekämpfung und Abschiebungen (siehe hier) zu schließen, gefährdet genau diese fragile Sicherheit. Denn sowohl ein Ausweichen von der engsten Stelle des Ärmelkanals auf Seegebiete mit größerer Küstendistanz, als auch eine Rückverlagerung der Migration hin zum Lastkraftverkehr oder eine Zunahme hochriskanter indivueller anstelle von zumindest semiprofessionell organisierten Bootspassagen werden die Zahl der Todesopfer wieder ansteigen lassen.

Noch andere Verschiebungen lassen sich aktuell erkennen. Denn waren es zu Beginn fast ausschließlich iranische Staatsangehörige, die in Booten übersetzten und damit die Kanalroute etablierten, so zeigt die oben abgebildete Grafik, dass im laufenden Jahr Menschen aus sehr viel mehr Ländern diese Möglichkeit nutzen. Was vor allem auffällt, ist eine Zunahme des Anteils von Afghan_innen und „anderen“ Nationalitäten ab Mai und der Sudanes_innen im Juli 2020. Das demographische Profil der Channel crossers gleicht sich damit demjenigen der Camps von Calais und Grande-Synthe an. Zwar sagen die statistischen Daten nichts darüber aus, ob die Bootspassagiere zuvor dort gelebt haben, doch sind sie ein starkes Indiz dafür, dass das Boot für tendenziell mehr Gruppen zum Mittel der Wahl wird. Anstatt eine Schließung der Kanalroute vermelden zu können, sind die politischen Akteur_innen also nicht nur mit immer neuen Höchstwerten, sondern zugleich mit einer demographischen Ausweitung der Channel crossings konfrontiert. Die Dynamik wird also andauern.