Eine Woche nach der tödlichen Havarie am 24. November 2021 vor Calais (siehe hier, hier und hier) geben Recherchen des kurdischen Privatsenders Rudaw mit Sitz in Erbil ein detaillierteres Bild des Geschehens. Basierend auf Interviews mit den beiden Überlebenden und mit Angehörigen der Opfer wird deutlich: Die Passagier_innen setzten Notrufe an die französischen und britischen Küstenwachen ab, die jeweils auf die Zuständigkeit des anderen Landes verwiesen. So blieb jede Hilfe aus, bis schließlich französische Fischer mehr als zwölf Stunden, nachdem das Boot in Seenot geraten war, die im Wasser treibenden Leichen entdeckten. Die Recherchen legen außerdem nahe, dass sich das Boot bereits in britischen Hoheitsgewässern befand, als die Situation an Bord lebensbedrohlich war. Die britischen Behörden würden in diesem Fall eine Mitverantwortung für den Tod von mindestens 27 Menschen tragen.
Einer der beiden Überlebenden ist Mohammed, ein 21-jähriger kurdischer Arbeiter, der sich nach eigenen Angaben auf dem Weg zu seiner kranken Schwester in Großbritannien befand, um Geld für eine anspruchsvolle medizinischen Behandlung zu verdienen. In einem fünfzehnminütigen Video schilderte er dem Rudaw-Reporter Zinar Shino, wie er die Havarie erlebte.
Es ist wichtig, mit dem Ende des Inverviews zu beginnen, denn dort wird seine Angst deutlich, von Schleusern – über deren Identität er keine Aussage trifft und die er, wie er berichtet, nicht einmal kannte – getötet zu werden, eben weil er die Havarie überlebt hat. „My life is in danger. The smugglers are threatening me, saying […] if we catch you, we’ll kill you“. Eindeutige Drohungen habe er nach seiner Rettung erhalten. Aus unserer Sicht ist dies keineswegs abwegig.
Mohammed berichtet, dass er vor etwa einem Monat aus der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak über Belarus, wo er acht bis zehn Tage verbracht habe, nach Dunkerque gekommen sei. Am Abend des 24. November sei er als einer von 33 Passagier_innen an Bord des Schlauchboots gegangen. Er erinnert sich an etwa 15 irakische und vier iranische Kurd_innen, vier oder fünf Leute aus Somalia und einen Ägypter, der das Steuer bediente. Mehrere Familien seien an Bord gewesen. Ein Mädchen im Alter von drei oder vier Jahren erkannte Mohammed auf einem Foto wieder, das der Reporter ihm auf dem Mobiltelefon zeigte. Während der Nacht sei zunächst Wasser in das Boot gelangt. Als ein Schiff in Sichtweite kam, hätten einige Zeichen geben wollen, aber die übrigen wollten oder mussten die Fahrt Richtung Großbritannien fortsetzen. Danach kam kein weiteres Schiff mehr in Sicht, das Boot begann, Luft zu verlieren und mehrere Passagiere setzten Notrufe ab:
„The right side of the boat was losing air. Some people were pumping air into it and others were bailing the water from the boat. Then after a bit, we called the French police and said, help us, our pump stopped working.‘ Then [we] sent [our] location to the French police and they said, ‚you’re in British waters‘. In British waters, we called Britain. They said call the French police. Two people were calling – one was calling France and the other was calling Britain. The British police didn’t help us and the French police said, ‚you’re in British waters, we can’t come‘. Then, as we were slowly drowning, the people lost hope and let go. Then the waters took us back to France. The boat sank in the water and all people fell into the water. We held onto the boat and the people, each person holding the hands of the one behind them so they don’t drawn in the water.“
Mohammed schildert sodann, wie die Menschen allmählich die Kraft verloren und andere sogar darum baten, nicht mehr festgehalten zu werden.
Einen Tag nach der Veröffentlichung des Interviews mit Mohammed berichtete Rudaw am 30. November über ein Gespräch mit Omar, dem zweiten, aus Somalia stammenden Überlebenden der Havarie:
„Omar said they called both France and Britain, but ‚Most of the calls were for Britain asking for help.‘ […] ‚They [the British] said send us location, but we did not have time and the phones fell into the water, and people started dying,‘ he said, speaking in Arabic from a location near Calais. Asked if the British heard their cries, Omar said, ‚Yes they could hear us, we were crying for help and we called twice, not just once.‘ ‚We drowned in the British sea,” Omar said, repeating it, “We drowned in British waters.‘“
Omar berichtet, wie die bereits ins Wasser gestürzten Passagier_innen Notrufe absetzten. Wie Mohammed gelang es ihm zu überleben, allerdings sitzt er während des Interviews im Rollstuhl. Seine Beine sind verbunden, weil er einen halben Tag lang in einem Gemisch aus Wasser und Benzin zugebracht habe, das ihm die Haut wegfraß.
Die Aussage beider Männer, dass Notrufe nach Frankreich und Großbritannien abgesetzt worden seien, sich das Boot bereits in britischen Hoheitsgewässern befunden habe und keine Rettung erfolgt sei, wird durch Aussagen von Angehörigen der Opfer unterstrichen:
„A relative of two of the victims, Taha (not his real name), who was in contact with them via Facebook on Tuesday night, tracking their location live, also alleges that the migrants reached British waters. ‚Forty-five minutes before they drowned, they called and said they were in British waters but could not move. They drowned in British waters and the waves took the bodies to French waters,‘ the relative, who does not want to be identified for legal reasons, told Rudaw via telephone. ‚I believe they were five kilometers inside British waters,‘ he said. Asked if his relative on the boat called British police, he replied ‚100 percent, 100 percent and they [British police] even said they would come [to the rescue].‘“
Neben der Aussage des Taha genannten Mannes legte Rudaw später weitere Aussagen von Angehörigen vor, die aufgrund der Mobilkommunikation überzeugt waren, dass sich das Boot bereits im britischen Hoheitsbereich befand, aber keine Hilfe bekam.
Die Aussagen beider Männer stimmen nicht vollständig überein, etwa was die Beschreibung des Weges zum Ablegeplatz betrifft. Allerdings ist dies durch die traumatisierenden Ereignisse und vielleicht auch mit Blick auf die Drohungen der Schmuggler, von denen Mohammed sprach, nachvollziehbar. Gleichwohl lassen die Aussagen eine ungefähre Rekonstruktion der Ereignisse zu.
Die Passagier_innen scheinen demnach gegen 18 Uhr von Dunkerque (wohl: Grande-Synthe) aus aufgebrochen zu sein; nach Mohammeds Schilderung wurden sie mit einem Bus zur Ablegestelle transportiert, nach Omars Schilderung legten sie einen mehrstündigen Fußmarsch zurück. Das Boot legte zwischen 20 und 22 Uhr ab, vermutlich gegen 21 Uhr. Der in Großbritannien lebende Taha erklärte, man habe mit einer Ankunft in Großbritannien gegen 2 Uhr britischer Zeit gerechnet. Gegen 1:30 Uhr, so Taha, habe er durch den Mobilfunkkontakt zu seinen Verwandten an Bord von den ersten Problemen erfahren. Den Ausfall des Motors datiert Taha zwischen 2:15 und 2:45 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt habe sich das Boot laut Geolokalisierung etwa 5 Kilometer in britischem Hoheitsgebiet befunden. Danach setzte der Luftverlust ein, das Boot wurde instabil, die Passagiere hielten sich an den Resten und aneinander fest und ertranken allmählich. „After 12 hours by God… the French chastguards came,“ so Omar. Die Aussagen lassen nicht zuletzt vermuten, dass die Gesamtzahl der Passagiere 33 (Mohammed) oder 34 (Taha) betrug, was bedeutet, dass noch vier oder fünf Personen vermisst und sehr wahrscheinlich tot sind.
Das britische Innenministerium bestritt auf Anfrage von Rudaw den Vorwurf, Notrufe missachtet zu haben und damit für den Tod der Geflüchteten mitverantwortlich zu sein, und erklärte, der Vorfall habe sich in französischen Gewässern ereignet. Die Küstenwache teilte dem Sender mit, sie habe am Tag der Havarie fast hundert Notrufe aus dem Ärmelkanal erhalten und auf alle reagiert. Tatsache ist, dass am Tag der Havarie 757 Geflüchtete in 17 Booten Großbritannien erreichten, eine Zahl, die noch vor Kurzem ein Tagesmaximum markiert hätte (siehe hier und hier). Eine Überforderung wäre also durchaus denkbar.
Die britische Küstenwache erklärte außerdem, sie fahre normalerweise nicht in französische Gewässer ein, es sei denn, sie werde von ihren französischen Partnern darum gebeten. So habe sie am 24. November einen Helikopter und ein Rettungsboot zur Verfügung gestellt, um sich an der Search and rescue-Operation zu beteiligen. Diese hatte allerdings erst begonnen, als ein französischer Fischer die im Meer treibenden Leichen bemerkt hatte.
[Die Namen der beiden Überlebenden werden in verschiedenen Medienquellen unterschiedlich angegeben. Mohammed selbst hatte offenbar wegen der Drohungen der Schmuggler unteschiedliche Namen angegeben. Basierend auf der Darstellung von Rudaw, verwenden wir an dieser stelle lediglich die Vornamen.]