Kategorien
Channel crossings & UK

Britischer Populismus, albanische Migration und ein geleakter Militärreport

Die britische Boulevardpresse erlaubt momentan aufschlussreiche Einblicke, und zwar sowohl in Interna des britischen Grenzregimes, als auch in das konservative Campaigning zur Rettung des britisch-ruandischen Migrationsdeals. Nebenher macht ein Blick in die Boulevardpresse eine aktuelle Tendenz der Migration auf der Kanalroute sichtbar, nämlich eine verstärkte Präsenz albanischer Migrant_innen. Letzteres wird von konservativen Hardlinern skandalisiert, belegen die Albaner_innen doch scheinbar, dass die Channel crossings keine Fluchtmigration seien und der vehemente Protest linker, liberaler und kirchlicher Organisationen gegen den britisch-ruandischen Migrationsdeal auf Fakes basiere. Grundlage dieser Skandalisierung ist ein geleakter Report des britischen Militärs, das seit April 2022 für die Bekämpfung der kanalüberfreifenden Bootsmigration zuständig ist.

Der Report gelangte offenbar zunächst an die rechtspopulistische Partei Reform UK (vormals: Brexit Party), die ihn an den Boulevard weiterreichte. Der Vorgang steht im Kontext der Neubesetzung des Tories-Vorsitzes, was gleichbedeutend mit der Entscheidung über die Nachfolge des zurückgetretenen Premierministers Boris Johnson ist. Die beiden verbliebenen Kandidat_innen Liz Truss und Rishi Sunak umwerben vor allem den rechten Flügel der Tories. Sie haben sich vor diesem Hintergrund demonstrativ zur Umsetzung des Ruanda-Deals bekannt und sogar dessen Ausweitung auf andere afrikanische Staaten gefordert, obwohl noch völlig offen ist, ob der Deal überhaupt rechtlich umsetzbar ist.

Der Wortlaut des geleakten Berichts ist leider nicht veröffentlicht, sodass wir nur aus zweiter Hand und durch die Brille des Boulevardjournalismus über seinen Inhalt informiert sind. An die Öffentlichkeit gebracht wurde er am 6. August 2022 durch MailOnline, die gemeinsame Website der konservativen Zeitungen Daily Mail und Mail on Sunday unter der Headline: Four in 10 Channel migrants are from ALBANIA – not a country devastated by war of famine – secret military file reveals.

Wie aus dem Artikel hervorgeht, stammt das Dokument aus dem Kontext der Operation Isotrope – also der unter dem Dach des Verteidigungsministeriums geschaffenen Struktur zur Bekämpfung der Bootsmigration durch die Royal Navy (siehe hier) – und ist als official sensitive klassifiziert. Dies bedeutet, es handelt sich um ein streng vertrauliches, aber nicht geheimes Dokument. Die Mail on Sunday will es exklusiv vom Reform UK-Vorsitzenden Richard Tice erhalten haben, dem es zugespielt worden sei. Offenbar gibt es unter dem Personal der Operation Isotrope also Mitarbeiter_innen, die berufliche Risiken für die Durchsetzung einer besonders abschreckenden Grenzpolitik eingehen.

In welche Richtung die Enthüllung zielt, formuliert Rice gleich selbst: „Ein Heer von wohlmeinenden, aber fehlgeleiteten linken Politikern, Anwälten und Weltverbesserern hat die Behauptung aufgestellt, dass die große Mehrheit der Menschen, die diese gefährlichen Reisen unternehmen, verzweifelt vor Krieg, Verfolgung und Terror fliehen. Wenn diese Menschen nicht wirklich um ihr Leben fliehen, dann ist es nicht Sache des britischen Steuerzahlers, sie zu unterstützen.“ Die eigentliche Stoßrichtung benennt der Autor des Artikels, Mark Hookham: „Das Dokument untergräbt auch die Kritik linker Kritiker […] an den Plänen, Asylbewerber nach Ruanda zu schicken“, und zitiert den ehemaligen Tory-Vorsitzenden Duncan Smith: „Dies ist ein eindeutiger Beweis dafür, dass es sich hier um ein wirtschaftliches Problem handelt, und deshalb müssen wir das Ruanda-Programm unbedingt fortsetzen, auch im Gegensatz zu all denjenigen in der liberalen Linken, die fordern, dass wir jeden reinlassen.“

Soweit die populistische Indienstnahme des Berichts. Aber was ist über seinen Inhalt bekannt?

Der Bericht stellt offenbar eine signifikante Zunahme albanischer Bootsmigrant_innen innerhalb einer sechswöchigen Periode in diesem Sommer fest. In dieser nicht genau datierten Periode hätten 1.075 Albaner_innen den Ärmelkanal passiert, was einem Anteil von 37,5 Prozent an insgesamt 2.863 Passagen entspreche. Albaner_innen seien in diesem Zeitraum die mit Abstand größte Gruppe der Passagier_innen gewesen, gefolgt von Menschen aus dem Iran (373 Personen), Afghanistan (363 Personen), Irak (217 Personen), Syrien (162 Personen) und Eritrea (163 Personen). Im vergangenen Jahr seien lediglich 757 Albaner_innen per Boot eingereist.

Aus dem Bericht geht laut MailOnline außerdem hervor „dass die Analysten der Operation Isotrope […] glauben, neun verschiedene Gruppen des organisierten Verbrechens identifiziert zu haben, die entlang der französischen Küste tätig sind. Die Analysten des Nachrichtendienstes haben ihnen jeweils einen eigenen Codenamen gegeben: Dragon, Lotus, Gorgon, Behemoth, Colossus, Titan, Tiamat, Hydra und Leviathan. Es ist anzunehmen, dass Satelliten und Drohnen eingesetzt wurden, um die Startplätze der einzelnen Banden zu identifizieren und ihre Überfahrten zu verfolgen, während Experten ihre Boote auf weitere Hinweise hin untersucht haben. Das Militär hat auch die Nationalität der auf den Booten befindlichen Personen analysiert.“ Weiterhin stelle der Bericht fest, dass die Schleuser_innen ihre Boote aus China bezögen und Dragon und Lotus ihre chinesischen Hersteller sogar gebeten hätten, größere Boote zu produzieren, damit mehr Personen transportiert werden könnten. Allerdings sei „die nachrichtendienstliche Erhebungsoperation des Militärs (military’s intelligence-gathering operation) derzeit durch einen Mangel an Ressourcen eingeschränkt“ und werde durch fehlende Angaben der französischen Seite zusätzlich erschwert.

Dies vermittelt einen gewissen, wenn auch nicht spektakulären, Einblick in die Arbeitsweise und die Probleme der Operation Isotrope (sowie hinsichtlich ihrer Fantasie bei der Vergabe von Codenamen), allerdings sind die Erkenntnisse über die Schleusungsunternehmen und den Import der Boote aus China nicht wirklich neu (siehe etwa hier). Wäre der Bericht nicht nur dem Netzwerk eines rechten Populisten, sondern der breiten Öffentlichkeit zugänglich, wäre er möglicherweise eine wertvolle Quelle zum Verständnis der Grenzorganisation und Grenzökonomie.

Der hohe Anteil albanischer Staatsangehöriger ist, ordnet man ihn in den Kontext der Kanalroute ein, durchaus eine auffälliges Detail. Allerdings ist es falsch, aus der Beobachtung des britischen Militärs während der sechs Sommerwochen auf einen generellen Trend zu schließen. Temporäre Verschiebungen bei den Nationalitäten der Bootspassagier_innen hat es immer wieder gegeben, so wie auch Veränderungen bei den eingesetzten Bootstypen, den genutzten Ablegeplätzen, der verlangten Preise und der monatlichen Frequentierung zu beobachten waren; hinzu kommen Konkurrenzkämpfe zwischen den Akteuren. Solche Veränderungen des Marktes, seiner Akteure und seiner Rahmenbedingungen sind die von außen schwer analysierbar, es ist jedoch offensichtlich, dass sie immer wieder neue Konstellationen hervorbringen, beispielsweise weil die relativ sicheren Passagen während der Sommermonate zu einem anderen Preis angeboten werden können als die relativ unsicheren in den Wintermonaten, sodass sie für unterschiedliche Kundenkreise finanzierbar sind. Die starke Nutzung der Boote durch Albaner_innen in diesem Sommer dürfte ein solches temporäres Phänomen sein. Migrant_innen aus den Balkanländern passierten übrigens bereits früher den nordfranzösisch-britischen Grenzraum, und auch ein gewisser Anteil von Menschen, die sich selbst als Arbeitsmigrant_innen verstanden, ist nicht neu. Dem gegenüber machten Geflüchtete aus den bekannten Kriegs- und Konfliktgebieten über Jahrzehnte hinweg die Mehrzahl der Migrant_innen aus. Auch angesichts von über 18.000 Bootspassagen seit Jahresbeginn erzeugt die Verallgemeinerung der in sechs Wochen erhobenen Daten ein Zerrbild. Was aus rechtspopulistischer Sicht als Skandal erscheinen soll, ist aus empirischer Sicht Unsinn.

Care4Calais, eine der gegen den Ruanda-Deal klagenden Organisationen, teilt die Einschätzung, dass die Zahlen eher ein temopräres Phänomen wiederspiegeln. Darüber hinaus zeigten „jüngste Zahlen eine Anerkennungsquote von 55 % für albanische Flüchtlinge, so dass die Behauptung, es handele sich ausschließlich um Wirtschaftsmigrant_innen, eine Mußmaßung sein dürfte“.

Die MailOnline hatte argumentiert, dass Albanien zwar ein armes Land sei, jedoch zu den EU-Beitrittskandidaten gehöre, und es sich daher nur um eine (aus konservativer Sicht tabuisierte) Migration aus wirtschaftlichen Gründen handeln könne. Gegen den Strich gelesen, bringt diese Mutmaßung übrigens in grotestker Weise auf den Punkt, warum der Ruanda-Deal abzulehnen ist. Jemand aus einem künftigen EU-Staat würde sich in Ruanda wiederfinden, weil sie/er in ein Land wollte, das einmal ein EU-Staat war.