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Zwischen Le Mans, Zeebrugge und Irland

Die Havarie von Wimereux im Kontext der Grenzpassagen um die Jahreswende 2023/24

Calais im Advent 2023: Oben die Aussicht auf das Olympiajahr 2024, unten Steinschüttungen zur Verhinderung von Camps in Sichtweite des imposanten Rathauses. (Foto: Th. Müller)

Beim Ablegen eines Schlauchbootes bei Wimereux starben am frühen Morgen des 14. Januar 2024 fünf Geflüchtete (siehe hier). Vier von ihnen, Abadeh (14 Jahre), Mohamed (16 Jahre), Ayham (24 Jahre) und sein Bruder Aysar (26 Jahre), konnten inzwischen identifiziert werden; sie alle sind syrischer Nationalität. Ihr Tod fällt mit dem Wiederbeginn der Bootspassagen nach einer fast einmonatigen Unterbrechung zusammen. Doch auch in dieser witterungsbedingten Pause kam es zu lebensbedrohlichen Situationen, und zwar an Bord von Kühlfahrzeugen. Dies zeigt einmal mehr, dass hochriskante Grenzpassagen nicht nur per Schlauchboot stattfinden und dass sie einen sehr viel weiteren geographischen Raum betreffen als den Küstenabschnitt von Boulogne-sur-Mer, Calais und Dunkerque.

Die Bootspassagen und ihre Unterbrechung

Am 16. Dezember registrierten die britischen Behörden die letzten Ankünfte von Schlauchbooten im Jahr 2023: Ein Boot mit 55 Menschen erreichte an diesem Tag britisches Hoheitsgebiet. Einen Tag zuvor starben bei zwei Havarien an der französischen Küste vier Menschen, nachdem es bereits am 22. November und 12. August ähnliche Havarien mit Todesopfern gegeben hatte (siehe hier und hier). Die Häufung tödlicher Situationen beim oder kurz nach dem Ablegen setzt sich also fort.

Im Herbst und Winter 2023/24 bestehen bislang durchgehend Witterungsbedingungen, die Bootspassagen entweder gar nicht oder in sehr kurzen Zeitfenstern zulassen, sodass sie wesentlich riskanter werden. So war die Phase zwischen dem 17. Dezember 2023 und 12. Januar 2024, in der kein einziges Boot übersetzte, die längste Unterbrechung seit dem Winter 2019 – dem ersten Winter nach der Erschließung dieser maritimen Route. „Wir hatten 26 aufeinanderfolgende Tage mit schlechtem Wetter. Jetzt haben die Menschen die etwas besseren Bedingungen genutzt, um sich auf den Weg zu machen. Aber man sieht, dass die Situation nicht günstiger war“, sagte eine Kommissarin der Grenzpolizei nach der Havarie bei Wimereux. Die Wassertemperaturen liegen momentan bei etwa 9 Grad, was schnell zum Aussetzen der Körperfunktionen führt.

Die Havarie ereignete sich während des ersten Wetterfensters im neuen Jahr. In derselben Zeit erreichten am 13. Januar drei Boote mit 124 Personen und am 14. Januar vier Boote mit 139 Personen britisches Hoheitsgebiet. Die ertrunkenen Menschen hätten also zu den ersten Ankömmlingen des Jahres gehört. An denselben Tagen wurden 182 Menschen in französischen Gewässern gerettet. Weitere Überfahrten folgten erst wieder am 17. Januar, als 358 Menschen in acht Booten Großbritannien erreichten und die Gesamtzahl seit Jahresbeginn auf über 600 anstieg.

Während der wetterbedingten Unterbrechung der Bootspassagen hätte es jedoch leicht weitere tödliche Situationen geben können, wie die folgenden Beispiele dokumentieren.

Rettungen in Le Mans und Irland

Wie die nordfranzösische NGO Utopia 56 berichtet, erhielt sie am 26. Dezember 2023 folgenden Notruf: „Wir sind in einem Lastwagen eingesperrt, mein Freund kann nicht atmen.“

Es stellte sich heraus, dass sich sechs Personen im Inneren eines mit Orangen beladenen Kühltransporters befanden. „Sie versuchen, die Grenze nach Großbritannien zu überqueren, aber der LKW hat angehalten und die Tür ist blockiert“, so Utopia 56. Von der NGO alarmiert, gelang es der Polizei trotz rascher Reaktion zunächst nicht, das Fahrzeug aufzufinden, das sich laut Standortdaten auf einem Parkplatz in Le Mans im Inneren Frankreichs befand. Erst nachdem Utopia 56 vor dem Abbrechen der Kommunikation weitere Informationen aus dem Fahrzeug enthielt, konnten Polizei und Rettungkräfte die eingeschlossenen Personen befreien. Seit dem Notruf waren etwa zehn Stunden vergangen.

„Kühltransporter sind die gefährlichsten Fahrzeuge, sie haben aber den Ruf, leichter durch die Kontrollen zu kommen“, kommentiert Utopia 56 den Fall. „An der Grenze wird weiterhin täglich versucht, sie mit einem Lastwagen zu passieren, trotz des Risikos und der geringen Erfolgschancen. Diese Technik wird vor allem von den am stärksten benachteiligten Personen angewandt, die eine Grenzpassage versuchen, ohne einen Schleuser bezahlen zu müssen.“ Da Kühltransporter hermetisch geschlossen sind (was das Entdecktwerden durch CO2-Detektoren erschwert), sind die Menschen dem Risiko ausgesetzt, bei zu langem Eingeschlossensein zu ersticken.

Nach der Rettung der Exilierten in Le Mans veröffentlichte Utopia 56 diesen Chat mit den Betroffenen. (Quelle: Utopia 56 / X)

Ein vergleichbarer Fall wurde kurz danach aus dem irischen Hafen Rosslare Europort bei Wexford bekannt. Am frühen Morgen des 8. Januar 2024 wurden dort vierzehn Exilierte aus einem Kühlcontainer befreit; dieser befand sich auf einem Lastwagen, der eine Fähre verließ. „Die 12 Erwachsenen und zwei Kinder […] waren gezwungen gewesen, ein Loch in den Container zu schneiden, da sie um Luft rangen“, berichtet der Irish Independent: „Ein örtlicher Ersthelfer sagte, es sei ein Glück, dass […] niemand ums Leben gekommen sei, nachdem eine der drei Frauen aus der Gruppe einen verzweifelten Anruf bei der britischen Polizei getätigt hatte, die dann die irischen Behörden alarmierte.“ Erste Ermittlungen ergaben, dass der Lastwagen in der Nähe von Paris beladen worden war und die Fähre aus dem belgischen Zeebrugge kam. Von den geretteten Personen stammten zehn aus den kurdischen Gebieten des Irak und Iran, drei aus Vietnam und eine aus der Türkei.

Der Hafen von Zeebrugge ist seit der Jahrtausendwende als Etappe kommerziell organisierter Grenzpassagen in (Kühl-)Containern bekannt. Bei einer missglückten Schleusung von dort nach Großbritannien im Juni 2000 erstickten 58 Menschen chinesischer Nationalität, im Oktober 2019 starben in einer ähnlichen Situation 39 Menschen aus Vietnam. Es waren die Ereignisse mit den meisten Todesopfern in der Geschichte der informellen Migration über den Ärmelkanal überhaupt.

Der irische Verkerhsminister Eamon Ryan äußerte sich erleichtert, dass es im aktuellen Fall nicht zu Todesopfern gekommen war. Mit einem realistischen Blick fügte er hinzu: „Wir müssen alles tun, was wir können, um sie [die Transporte in Containern, d. Verf.] zu verringern, aber wir können sie nicht völlig beseitigen. Das haben wir bei der Regierung des Vereinigten Königreichs und Frankreichs gesehen, die versucht haben, diese Passage zu stoppen. Es ist praktisch unmöglich, sie vollständig zu vermeiden.“ Die Menschen riskierten die Überfahrt, so der Minister, aus Verzweiflung und weil Irland internationale Schutzverpflichtungen wahrnehme.

In diesem Fall sind die Geretteten nach Angaben der irischen Behörden bei guter Gesundheit. Die irische Polizei leitete über Europol eine internationale Ermittlung ein, um die strafrechtlichen Hintergründe aufzuklären.