Zwischen dem 1. Januar und dem 21. März überquerten 4.306 Exilierte den Ärmelkanal in Schlauchbooten. In den Vorjahren hatte die Zahl bei 3.836 (2022) bzw. 3.683 (2023) gelegen. Noch nie hat es in einem Winter also so viele Bootspassagen auf der Kanalroute gegeben, und dies, obschon die Zahl der Passagen im Gesamtjahr 2022 erstmals rückläufig war (siehe hier). Der Anstieg in den Wintermonaten bedeutet zugleich ein höheres Risiko, das durch die Fokussierung der Ordnungskräfte auf die Anfahrtwege und Ablegestellen der Boote nicht vermindert, sondern erhöht wird.
Der Anstieg in den Wintermonaten dürfte vor allem zwei Gründe haben. Zum einen war der Herbst von einer ungewöhnlich langen Schlechtwetterpriode geprägt, die nur an wenigen Tagen Überfahrten zuließ, und auch dies bei hohem Risiko. Von Mitte Dezember bis Mitte Januar war keine einzige Überfahrt möglich. Denkbar ist daher ein Nachholeffekt. Ein anderer Grund dürfte der verstärkte Kontrolldruck entlang der nordfranzösischen Küste und in ihrem Hinterland sein, was ein Ausweichen auf riskantere Zeiträume wahrscheinlicher macht.
Dieser Zusammenhang wird sichtbar, wenn wir die Anzahl der Transportmittel betrachten. Denn die meisten Boote passierten den Kanal – bezogen auf den Winter – nicht 2024 (91 Boote), sondern zwei Jahre zuvor (124 Boote). Entsprechend nahm die Zahl der Personen pro Boot von 31 im Winter 2022 auf 47 im Winter 2024 zu.
Personen | Boote | Pers. pro Boot | |
2019 | 157 | 16 | 10 |
2020 | 369 | 26 | 14 |
2021 | 807 | 51 | 16 |
2022 | 3.836 | 124 | 31 |
2023 | 3.683 | 88 | 42 |
2024 | 4.306 | 91 | 47 |
In diesem Zeitraum intensivierte Frankreich im Rahmen seiner bilateralen Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich den personellen, finanziellen und logistischen Aufwand, um den Antransport und das Ablegen der Boote zu unterbinden. Flankierende Maßnahmen, die auch andere Staaten, darunter Deutschland, einbezogen, richteten sich gegen Lieferketten und Zwischenlager für die aus China importierten Boote (siehe hier).
In diesem Rahmen fand am 21. Februar 2024 eine internationale Polizeiaktion mit Schwerpunkt in Deutschland statt, bei der u.a. Schlauchboote und anderes Equipment beschlagnahmt und Haftbefehle vollstreckt wurden; die Ermittlungsbehörden gaben an, ein Schleusernetzwerk zerschlagen zu haben (siehe hier). Tatsächlich ist jedoch nicht zu beobachten, dass die Zahl der Bootspassagen nach dem 21. Februar absank. Vielmehr entfallen die meisten Bootspassagen dieses Winters auf den Zeitraum seit dieser Polizeiaktion. Dies verdeutlicht, dass die für Schleusungen erforderlichen Strukturen nicht wirklich geschwächt wurden.
Insgesamt fanden zwischen dem 1. Januar und 21. März an 23 Tagen Überfahrten statt. Setzten an einigen Tagen nur einzelne Boote über, waren es am 17. Januar sowie am 3. und 4. März jeweils sieben bzw. acht. Der bislang am stärksten frequentierte Tag war der 20. März, als zehn Boote mit 514 Personen britisches Hoheitsgebiet erreichten.
Mehrmals kam es zu Todesfällen: Am 14. Januar starben fünf Menschen, darunter zwei Jugendliche, beim Ablegen eines Boots im Wimereux bei Boulogne-sur-Mer (siehe hier). Am 28. Februar starb eine Passagieren bei einer Havarie auf hoher See, mindestens eine weitere Person gilt als vermisst (siehe hier). Am 2. und 3. März starben bei zwei unterschiedlichen Ablegemanövern im kanalisierten Fluss Aa ein Kind (siehe hier) und ein Erwachsener (siehe hier). Drei dieser vier tödlichen Situationen entstanden also nicht auf hoher See, sondern beim Ablegen, zwei von ihnen standen in Zusammenhang mit Polizeieinsätzen. Die winterlichen Wassertemperaturen bedeuten, dass bereits nach kurzer Zeit das Bewusstsein aussetzt, wenn eine Person sich im Wasser befindet. Genau dies geschieht nicht nur bei Havarien auf See, sondern auch beim Besteigen eines Boots im strandnahen Gewässer.
Zivilgesellschaftliche Organisationen dokumentierten, wie bereits im Vorjahr (Video), mehrmals Polizeieinsätze gegen ablegende Boote, bei denen leicht sehr riskante Situationen entstehen. Da nur ein Bruchteil solcher Einsätze beobachtet werden kann, ist von einem erheblichen Dunkelfeld auszugehen.
Bilder brennender Schlauchboote an nordfranzösischen Stränden stehen symbolhaft für ein drastisches Vorgehen, wozu neben dem Unbrauchbarmachen des Bootes auch der Einsatz von CS-Gas gehört. Am 21. März wurde Osmose62, eine zivilgesellschaftliche Initiative zur Unterstützung Exilierter in Boulogne-sur-Mer, Zeuge eines solchen Einsatzes. Die Organisation sprach von „unerhörten Gewaltszenen“ und zeigte sich „entsetzt über die Methoden, die im Namen des Schutzes angewandt werden. Schützen wir so unsere Mitmenschen? Indem wir Angriffe auf Boote auf dem Meer starten, Familien und Kinder dem Tränengas aussetzen, Chaos stiften, während Leben auf dem Spiel stehen?“ Im selben Tag erreichten sieben Boote mit 263 Menschen britisches Hoheitsgebiet.
Wie riskant das Ablegen in den Wintermonaten ohnehin ist, zeigt eine weitere Schilderung von Osmose62. Demnach konnte am 17. Februar „ein weiteres Drama […] nur knapp verhindert werden“, als in Dannes südlich von Boulogne-sur-Mer ein Boot mit etwa 50 Passagier_innen ablegte: „Bei stürmischer See kippte das Boot sehr schnell um und einige Menschen fielen ins Wasser. Unter ihnen befanden sich ein vier Monate altes Baby und seine Familie, die in Boulogne-sur-Mer ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Soldaten fischten sie aus dem Wasser, zwei der Geflüchtete waren kurz vor dem Ertrinken. Ein Gendarm stand unter Schock.“ Osmose62 übernahm die Notversorgung mit Kleidung, warmen Getränken und Essen; der lokale Bürgermeister stellte Räumlichkeiten bereit. Für denselben Tag registrierte Großbritannien die Ankunft von 111 Personen an Bord von drei Booten.