Über eine lebensbedrohliche Lage und ihren Kontext
Das übliche Winterwetter in Nordfrankreich ist nasskalt, mit Temperaturen etwas über dem Gefrierpunkt, kaltem Wind und aufgeweichten Böden. Dies macht das Leben in einem Camp schwer, zermürbend und ungesund. Frostperioden hingegen sind selten. In der vergangenen Woche aber frierte es kontinuierlich. Die Temperaturen fielen auf minus sechs bis sieben Grad, gefühlt lagen sie noch darunter. Die Behörden aktivierten humanitäre Notfallpläne für die in den Camps lebenden Menschen. Natürlich ist dies zu begrüßen. Aber dennoch zeigt sich nun drastisch, wie unzureichend solche Maßnahmen sind, und mehr noch: dass auch ihnen die Logik eingeschrieben ist, die Lebensbedingungen auch dann abschreckend zu erhalten, wenn es das Schlimmste zu verhindern gilt.
Für Calais aktivierte die Präfektur des Departements Pas-de-Calais den plan Grand froid, den Große-Kälte-Plan. Er existierte bereits in den meisten Vorjahren und besteht in der befristeten Bereitstellung von Nachtunterkünften in Calais einschließlich Bustransfers von den Camps dorthin. Der Plan ist besser als nichts, aber er greift eher selten und wird beispielsweise beim gängigen nasskalten Winterwetter knapp oberhalb des Gefrierpunktes nicht aktiviert. Im Dezember forderten lokale Hilfsorganisationen, diese Unterkünfte beim Herannahen des Sturms Bella zu öffnen, weil auch dies ein Extremwetter sei. Die Präfektur weigerte sich zunächst. Bei Recherchen in Calais hörten wir, dass die Unterkünfte dann am Folgetag geöffnet worden seien, aber das Angebot sei so schlecht kommuniziert worden, dass nur eine Handvoll Leute es am Ende genutzt habe.
Seit Beginn des Winters wurde der Kälteplan zunächst dreimal aktiviert. Seit dem 6. Februar gilt er kontinuierlich bis zum 15. Februar. Alleinstehende Männer haben in dieser Phase die Möglichkeit, in einer von der Präfektur angemieteten Halle zu übernachten. Sie befindet sich in jenem Teil des Industriegebiets Zone des dunes, wo bis zu seiner Räumung im Juli 2020 der Jungle gewesen war und sich heute eine gigantische Zaunlandschaft erstreckt (siehe hier und hier). Im Innern der Halle befinden sich weiße Gruppenzelte, in denen auf eng nebeneinander stehenden Pritschen geschlafen werden kann. An die Einhaltung eines Mindestabstandes und der Kontaktbeschränkungen zum Schutz vor der Corona-Pandemie ist darin nicht zu denken. Minderjährige, Frauen und Familien werden separat in einem anderen Teil der Stdt untergebracht.
Die Gesamtkapazität liegt bei 300 Plätzen. In der ersten Nacht dieser Frostperiode nutzten nach Angaben der Zeitung La voix du Nord 253 Personen das Angebot, darunter 75 Minderjährige. Als der Präfekt des Pas-de-Calais, Louis Le Franc, die Halle am 9. Februar besuchte, waren es dem Blatt zufolge etwa 140 Personen. Nach Angaben der Präfektur aber lebten Anfang Februar etwa 490 Migrant_innen obdachlos in Calais, wobei zivilgesellschaftliche Organisationen wie Utopia 56 von einer deutlich höheren Zahl ausgehen: etwa 800 Personen. Es verwundert daher nicht, dass weiterhin Geflüchtete in Zelten übernachten, zumal ein Vertrauen in die Präfektur aus guten Gründen fehlt.
Gegenüber dem französischen Portal InfoMigrants begrüßte Utopia 56 die Bereitstellung der Notunterkünfte, wies aber darauf hin, dass „der Zugang zu ihnen kompliziert“ sei: Die Betroffenen müssten sich von den Bussen abholen lassen, „und die Busse holen die Migranten nur zwischen 16.30 und 18.30 Uhr ab, abends und nachts gibt es also keine Abholung“ (allerdings spricht die Präfektur von abendlichen Suchfahrten).
Neben dem Frostplan der Präfektur haben obdachlose Personen in Frankreich generell die Möglichkeit, über die Notfallnummer 115 Zugang zu einer Notunterkunft zu erhalten. „Wir rufen jeden Abend die 115 an. Aber es ist immer dasselbe: Jede Nacht ist es überlastet,“ so Utopia 56. Ein Netzwerk zur privaten Unterbringung durch Bürger_innen existiere zwar, sei aber zu schwach, um den Bedarf zu decken. Um die dringendste Not zu lindern, verteile Utopia 56 daher in Calais und Grande-Synthe Feuerholz, Heizmittel und Rettungsdecken; andere Organisationen sind ähnlich aktiv. Es sei ein regelrechter „Anti-Unterkühlungs-Marathon“.
Grande-Synthe liegt nicht im Departement Pas-de-Calais, sondern im Departement Nord. Deshalb greifen die von der Präfektur für Calais ergriffenen Maßnahmen hier nicht. Auch eine vergleichbare Infrastruktur zur Nachtunterbringung in Frostnächten besteht nicht. Eine vom früheren Bürgermeister Damien Carême bereitgestellte Turnhalle, die rasch überfüllt gewesen war und in der inhumane Bedingungen geherrscht hatten, wurde von seinem Nachfolger entzogen. Heute Europaabgeordneter, wies Carême zu Jahresbeginn auf die Verschärfung der Lage in Grande-Synthe hin:
Angesichts der Notlage kündigte der französische Staat nun die Bereitstellung weiterer Unterkunftsplätze an; für Grande-Synthe sollen es 170 sein. Nach Angabe der Präfektur hätten am Wochenende des 6./7. Februar 78 Personen das Angebot angenommen. Nach dem Beginn der Maßnahme klagte Utopia 56 gegenüber InfoMigrants über fehlende Informationen und äußerte die Befürchtung, dass die Unterkünfte zu weit von Grande-Synthe bzw. Calais entfernt lägen und daher von den Migrant_innen nicht angemommen würden. Ohnehin reicht die Kapazität auch hier nicht aus, denn in den Camps von Grande-Synthe leben nach Schätzung der Organisation etwa 500 Menschen.
Der Notfall ist also eingetreten, und weder in Calais noch in Grande-Synthe stehen ausreichende Infrastrukturen zur Verfügung, um die Betroffenen zu schützen. Dem Fernsehsender Arte erklärte ein somalischer Mann exemplarisch, er habe sein Zelt des Morgens aufschneiden müssen, weil der Reißverschluss zugefroren und nicht mehr zu öffnen gewesen sei.
In dieser Situation zeigen sich die Folgen der routinemäßigen Räumungen – in Calais meist alle 48 Stunden (siehe hier), in Grande-Synthe in größeren Abständen, aber auch in größerem Ausmaß – besonders drastisch. Nach Beobachtungen der Human Rights Observers waren bei solchen Operationen in Calais allein im Dezember 528 Zelte bzw. Planen, 215 Decken bzw. Schlafsäcke und in 21 Fällen Kleidung beschlagnahmt worden. In Grande-Synthe waren es im gleichen Monat 724 Zelte. Zahlen für den Januar liegen noch nicht vor, dürften aber ebenfalls hoch liegen. Gleichwohl gehen die Räumungen auch während der Frostperiode weiter. So dokumentierten die Human Rights Observers für den 8. und 10. Februar Räumungen in Verbindung mit der Wegnahme von Zelten und Schlafsäcken:
Das European Council on Refugees and Exiles spricht in einem Bericht vom 12. Februar von einer „extrem lebensbedrohlichen Notlage“ für die im Freien Lebenden, und schildert folgende Situation: „Teams von Freiwilligen der [zivilgesellschaftlichen] Organisation erfuhren am Wochenende von Überlebenden mutmaßlicher Schiffbrüche auf dem Kanal, die aufgrund fehlender Notunterkünfte in nasser Kleidung auf der Straße schliefen. Die französische Küstenwache meldete die Rettung von 36 Menschen in zwei separaten Booten, die am Wochenende in Seenot geraten waren, und erklärte sie für ‚sicher und gesund‘, ohne ihren aktuellen Aufenthaltsort zu klären.“
Die Frostperiode fällt zeitlmich mit weiteren Restriktionen zusammen. So verlängerte die Präfektur das am 11. September 2020 erstmals in Kraft gesetztes Verbot aller nicht staatlich beauftragten Nahrungsverteilungen in weiten Teilen von Calais ein weiteres Mal. Es gilt nun (erst einmal) bis zum 9. März und umfasst inzwischen 30 Straßen bzw. Plätze, darunter große Teile der Innenstadt.
Und kurz vor Beginn der Frostperiode erwirkte die Stadt Calais vor dem Verwaltungsgericht Lille die Erlaubnis zur Räumung eines Zeltcamps unter einer innerstädtischen Brücke. Bereits am 19. Januar waren nach einem identischen Verfahren mit hohem Aufwand Camps unter den Brücken geräumt worden (siehe hier). Das aktuelle Verfahren aber wurde in Gang gesetzt, um ganze sieben Zelte zu entfernen, in denen 14 Personen aus dem Sudan leben! Nach ihrer zu erwartenden Unterbringung in einem der Aufnahmezentren außerhalb der Stadt werden sie, wie viele andere vor ihnen, wahrscheinlich in eine noch prekärere Situation zurückkehren.
Das in diesem Beispiel sichtbare Verhaltensmuster der Autoritäten ist absurd. Aber es produziert im Kleinen, was während der gegenwärtigen Notlage existenzbedrohend geworden ist.