[Updated, 12. November 2021] „Es sieht so aus, als würden sie das Boot vom Heck und vom Bug aus anschieben, und ich vermute, dass die Idee dahinter ist, sie zurück in französische Gewässer zu schieben.“ Mit diesen Worten zitierte der Guardian am 10. Oktober eine Beobachtung, die Mitglieder von Channel Rescue in den vorausgegangenen beiden Wochen von der Steilküste in Dover aus gemacht hatte. Die Bericht ließ vermuten, dass die britische Border Force begonnen habe, die im September angekündigten Pushbacks – offiziell als turnaround-Taktik bezeichnet – tatsächlich durchzuführen (siehe hier und hier). Auch wir übernahmen diese Sicht in der ursprünglichen Version dieses Textes, doch teilte Channe Rescue auf Nachfrage mit, dass es keine wirklichen Belege für Pushbacks seit den Trainings im September gibt. Im gleichen Zeitraum aber griffen die französischen Behörden an der Nordküste ihres Landes zu neuen Maßnahmen wie Kontrollen an der belgischen Grenze und einer schwimmenden Barriere in einer Wasserstrasse. Und erstmals wurde ein Fall bekannt, bei dem ein ablegendes Boot beschossen worden sein soll. Gleichwohl wird die Kanalroute trotz des beginnenden Herbstes weiterhin stark frequentiert: Seit Jahresbeginn haben inzwischen mehr als 18.000 Migrant_innen den Kanal in Booten durchquert.
Einen Eindruck von der Sekuritisierung der Küste vermittelt eine Reise des französischen Innenministers Gérald Darmanin. Am 9. Oktober besuchte er zunächst einen stillgelegten Rastplatz Moëres an der Küstenautobahn in Ghyvelde nahe der französisch-belgischen Grenze. Die Anlage ist einer jener Rastplätze, die vor Jahren geschlossen wurden, um die Zugänge der Migrant_innen zu parkenden Lastwagen zu verknappen und den Lastkraftverkehr auf wenige, aber stärker gesicherte, Anlagen zu konzentrieren. Darmanin sprach dort mit Grenzpolizist_innen und Gendarmen, die auf dem brachliegenden Gelände „Kontrollmaßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung“ durchführten, sprich: den Grenzverkehr kontrollierten. Mehrere Medien zitieren ihn mit der Aussage: „Fünfzig Prozent der Migranten, die von Calais und Dünkirchen aus übersetzen wollen, kommen aus Belgien. Ich habe den Präfekten gebeten, entlang der gesamten belgischen Grenze Kontrollpersonal einzusetzen, um Schmuggler und Migranten festzunehmen, die Belgien verlassen und nach Frankreich gelangen wollen […]. Wir fordern unsere belgischen Freunde auf, auf ihrer Seite das Gleiche zu tun.“ Die belgische Regierung reagierte auf die Forderung zurückhaltend.
Danach besuchte Darmanin gemeinsam mit Polizeikräften den Canal des Dunes, eine künstlichen Wasserstraße im Westen von Dunkerque und in Reichweite der Camps von Grande-Synthe. Der Minister beschrieb sie als „einen der Sammelplätze“ der Migrant_innen: „Hier hat die Polizei eine schwimmende Barriere angelegt, um die Grenze zu sichern und illegale Ausreisen zu verhindern.“ Ein zugehöriges Foto (siehe oben, Foto unten rechts) zeigt eine an den Ufern und an Bojen fixierte Reihe von Schwimmkörpern. Der Abgleich mit Satellitenbildern lässt erkennen, dass die Barriere dort angelegt wurde, wo der Zaun des stark befestigten Fährhafens von Dunkerque auf den Kanal trifft und der Kanal etwas weiter den Zugang zur See bietet.
Schließlich reiste der Minister nach Marck bei Calais, wo er mit CRS und Gendarmerie zusammentraf und ihm ein beschlagnahmtes Schlauchboot, Rettungswesten und anderes Material gezeigt wurden. Die Calaiser Bürgermeisterin Natacha Bouchart hatte zuvor öffentlichwirksam angekündigt, seinen Besuch zu boykottieren und mit diesem symbolischen Akt einen noch härteren Kurs gegenüber den Exilierten einzufordern. Dabei denkt sie an „die Schaffung einer Grenzzone mit besonderen wirtschaftlichen und juristischen Maßnahmen und die Einrichtung eines neuen Zentrums für die Ordnungskräfte, um besser reagieren zu können“.
Darmanins Reise steht nicht nur im Kontext des bevorstehenden Präsidentschafts-Wahlkampf 2022, in dem die Calais-Thematik zu einem relevanten Thema der Rechten werden könnte. Ganz offensichtlich nutzte er sie auch, um gegenüber Großbritannien die noch ausstehende Zahlung von 62,7 Millionen Euro für den Ausbau der Küstenüberwachung in diesem und im kommenden Jahr einzufordern. Im September hatte die Weigerung Großbritanniens, diese im Juli vereinbarte Summe zu überweisen, weil Frankreich angeblich nicht genug zur Verhinderung der Bootspassagen unternehme, zu einem politischen Eklat zwischen beiden Staaten geführt (siehe hier). In der Tat sagte die britische Regierung nun zu, die Summe auszuzahlen, und stellte ihre vorherige Weigerung beschwichtigend als eine Verzögerung durch die bürokratischen Strukturen hin.
Vor diesem Hintergrund lässt sich Darmanins Küstenreise auch als Teil der außenpolitischen Kommunikation mit Großbritannien verstehen. Um Erfolge zu demonstrieren, erklärte er beispielsweise, die französische Polizei habe den Anteil unterbundener Bootspassagen in den letzten Monaten von 50 % auf 65 % erhöhen können. Auch würde der stärkere Druck im Raum Calais und Dunkerque dazu führen, dass „die Migranten in Richtung Somme oder sogar Cherbourg abwandern“. Einen Tag nach seinem Besuch reiste der Minister übrigens nach Griechenland, besuchte dort das neu eröffnete Lager für Geflüchtete auf Samos und sprach mit der Regierung über die Sicherung der EU-Außengrenzen.
Der Besuch fand in einer Phase statt, in der Human Rights Watch in einem aktuellen Bericht eklatante Menschenrechtsverletzungen in Calais und Grande-Synthe thematisierte und Exilierte nach einem Todesfall in Marck u.a. gegen die anhaltende Polizeigewalt demonstrierten (siehe hier und hier). Erwartungsgemäß bestritt Darmanin die Vorwürfe und stärkte den Polizeikräften demonstrativ den Rücken.
Kurz zuvor hatte die britische Daily Mail noch einen weiteren Fall öffentlich gemacht, nämlich die Beschießung einer Gruppe von Geflüchteten mit Gummigeschossen, die am frühen Morgen des 22. September im Begriff waren, von der Küste bei Dunkerque aus mit ihrem Boot abzulegen. Es war der erste dokumentierte Fall, in dem eine solche Waffe gegen ein ablegendes Boot eingesetzt wurde. Die Zeitung betonte, dass die entsprechenden Geschosse auf dem britischen Festland wegen ihrer potenziell tödlichen Wirkung von der Polizei nicht mehr verwendet werden dürfen. Durch ihren Einsatz erlitten zwei irakisch-kurdische Männer heftige Knochenbrüche an den Beinen bzw. an der Hand; eines der Opfer lag bei der Veröffentlichung des Falles Anfang Oktober noch im Krankenhaus. Hinweise auf Gewalt im Rahmen nächtlicher Polizeieinsätze in den Dünen und an den Stränden gibt es seit Längerem, doch könnte der aktuelle Fall durchaus eine Eskalation unter dem Erfolgsdruck darstellen, dem sich die französischen Behörden offenbar ausgesetzt sahen.
Die beschriebenen Maßnahmen haben die Zunahme der Bootspassagen gegenüber dem Vorjahr nicht abschwächen können. Im September, dem bislang am stärksten frequentierten Monat überhaupt (siehe hier), hatten nach Angaben der britischen Behörden insgesamt 3.879 Personen übergesetzt. Nach einer Schlechtwetterperiode zu Monatsbeginn gelang die Überfahrt am 7. Oktober 89 Personen, am 8. Oktober 624 Personen, am 9. Oktober 491 Personen, am 10. Oktober 364 Personen und am 11. Oktober 31 Personen (vgl. Simon Jones).
Darmanins Reise fiel damit auch in eine Zeit, in der binnen zweier Tage über 1.000 Menschen übersetzten und eine entsprechende mediale Resonanz fanden. Insgesamt ist die Zahl der erfolgreichen Bootspassagen seit Jahresbeginn auf über 18.000 gestiegen. Auch wenn in den kommenden Monaten ein witterungsbedingter Rückgang zu erwarten ist, so hat sich die Zahl der Channel crossers bereits jetzt gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. Gleichzeitig verhinderten die französischen Behörden allein am 10. Oktober die Überfahrt von etwa 500 Menschen. Hinzu kamen zahlreiche Rettungseinsätze auf See. Regionalen Medien zufolge wurden noch nie so viele Exilierte nach ihrer Bergung durch die französischen Rettungsdienste in den Hafen von Boulogne-sur-mer gebracht wie am 10. Oktober, als dort etwa 150 Menschen versorgt werden mussten. Insgesamt wurden im Küstenabschnitt von Dunkerque, Calais und Boulogne an diesem Tag bei 18 Einsätzen 342 Menschen aus Seenot gerettet.