Anlandung der Opfer der Havarie im Hafen von Boulogne-sur-Mer, 3. September 2024 (Foto: Osmose 62 / Facebook)
Im Seegebiet zwischen Calais und Boulogne-sur-Mer ereignete sich am heutigen 3. September 2024 eine der schwersten Havarien auf dieser Migrationsroute überhaupt. Französische Medien und Behörden berichten von mindestens zwölf Todesopfern, zwei Vermissten und zahlreichen Verletzten. Hier ein erster und vorläufiger Überblick.
[Update, 14. Juli 2024] Erneut ist im Ärmelkanal ein Schlauchboot havariert. Dabei starben nach Angaben der französischen Behörden vier Menschen. Das Unglück ereignete sich in den frühen Morgenstunden des 12. Juli 2024 im Küstengebiet nördlich von Boulogne-sur-Mer, etwa vier Stunden nachdem die etwa 60 Passagier_innen in See gestochen waren.
Wie bereits in den Vorjahren, verstärkten die französischen Behörden für die bevorstehenden Sommermonate die Küstenüberwachung. Die Zeitung La voix du Nord meldet allein knapp 800 zusätzliche Polizei- und Gendarmeriekräften für das Departement Pas-de-Calais. Die Maßnahme dürfte die Risiken beim Ablegen der Boote weiter erhöhen, während die Zahl der Bootspassagen im ersten Halbjahr dieses Jahres so hoch liegt wie noch nie.
Polizeieinsatz gegen ein ablegendes Boot, 21. März 2024. (Foto: Osmose62)
Zwischen dem 1. Januar und dem 21. März überquerten 4.306 Exilierte den Ärmelkanal in Schlauchbooten. In den Vorjahren hatte die Zahl bei 3.836 (2022) bzw. 3.683 (2023) gelegen. Noch nie hat es in einem Winter also so viele Bootspassagen auf der Kanalroute gegeben, und dies, obschon die Zahl der Passagen im Gesamtjahr 2022 erstmals rückläufig war (siehe hier). Der Anstieg in den Wintermonaten bedeutet zugleich ein höheres Risiko, das durch die Fokussierung der Ordnungskräfte auf die Anfahrtwege und Ablegestellen der Boote nicht vermindert, sondern erhöht wird.
In der gestrigen Nacht vom 13. auf den 14. Januar sind in der Nähe von Wimereux mindestens vier Menschen bei einer versuchten Passage nach Großbritannien ums Leben gekommen. Während die meisten Meldungen ([1], [2], [3], [4]) aktuell noch vier Tote vermelden, berichten zwei Quellen ([5], [6]) bereits von einem fünften Opfer, dessen Leiche heute früh gegen 9:00 Uhr von Einsatzkräften am Fuße der Klippen gefunden worden sei.
Le bilan s'alourdit. Un cinquième migrant retrouvé mort à Wimereux après une tentative de traversée de la Manche dans la nuit. https://t.co/Jq1KfO1JkY
Zum dritten Mal intallierten die französischen Behörden eine schwimmende Barriere, um die Bootspassagen nach Großbritannien zu erschweren. Sie befindet auf dem Fluss Authie südlich von Boulogne-sur-Mer. Wie schon eine benachbarte Anlage aus dem vergangenen Jahr, richtet sie sich gegen sogenannte Taxiboote: eine Technik, bei der ein anderswo zu Wasser gelassenes Schlauchboot die Passagier_innen von See aus aufnimmt.
Gedenken in Equihen bei Boulogne-sur-Mer am 12. Dezember 2023 für die verstorben und vermissten Exilierten an der Kanalküste. (Foto: Osmose 62)
Mindestens 28, vermutlich aber über 30 Exilierte starben 2023 im britisch-kontinentaleuropäischen Grenzraum. Die Gesamtzahl der dokumentierten Todesfälle stieg damit auf annähernd 400 Menschen seit der Jahrtausendwende. Sie alle sind direkt oder indirekt Opfer einer Migrationspolitik, die eine sichere und legale Passage der Grenze unmöglich gemacht hat. Keiner der Menschen hätte in einer anderen politischen Konstellation sterben müssen. Als eine Geste des Respekts erinnern wir an die Opfer der Grenze.
Im küstennahen Seegebiet nahe Boulogne-sur-Mer starben am 22. November 2023 zwei weitere Exilierte. Während eines kurzen Zeitfensters, das sich in einer wochenlangen Schlechtwetterphase auftat, hatten ein Schlauchboot mit 60 Passagier_innen die Überfahrt nach Großbritannien versucht. Das Unglück fällt mit dem Gedenken an die 31 Opfer der bislang schwersten Havarie auf der Kanalroute zusammen, die sich fast auf den Tag genau vor zwei Jahren ereignete. Doch es ist zugleich Ausdruck einer krisenhaften Zuspitzung im nordfranzösischen Küstengebiet.
Ungefähr 37.000 Menschen haben seit Beginn dieses Jahres den Ärmelkanal in kleinen Booten durchquert. Trotz der sinkenden Temperaturen und der schwieriger werdenden Verhältnisse auf See ist die Zahl der täglichen Überfahrten nach wie vor hoch. Mit dem Beginn der kalten Jahreszeit sind die Passagen jedoch riskanter geworden und die Zahl der Havarien nimmt zu.
Das verschobene Projekt der „Anti-Schleuser-Kameras“ zeigt die banalen Grenzen der Sekuritisierung
Überwachungskamera in Calais, März 2022. (Foto: Th. Müller)
Wer den Ausbau der Infrastrukturen zur Bekämpfung der Bootspassagen über eine längere Zeit beobachtet, wird feststellen, dass sie nicht frei von Friktionen war. Zwar ist die Sekuritisierung der neuralgischen Küstenabschnitte um Dunkerque, Calais und Boulogne-sur-Mer nicht zu übersehen: Neue Fahrzeuge und neues Equipment der personell verstärkten Polizei- und Gendarmeriebehörden sind im Einsatz, nachts kreisen Drohnen über den Dünen und ein Frontex-Flugzeug überfliegt von Lille aus die Küstenlinie. Ein Checkpoint an der E 40, die von Deutschland über Belgien nach Dunkerque und Calais führt, soll knapp hinter der französische Grenze das Heranschaffen von Schlauchbooten verhindern. Und als sich im vergangenen Herbst ein Vigipirate-Fahrzeug bei einem pubertären Fahrmanöver auf dem Gelände des Camps Old Lidl im Morast festfuhr und mithilfe der Campbewohner_innen im Wortsinne aus dem Dreck gezogen werden musste, wurde deutlich, dass ein ursprünglich zum Antiterrorkampf geschaffenes Polizeiprogramm inzwischen Teil der Migrationskontrolle geworden ist.