Der französische Fernsehsender France3 berichtete am 16. April 2020 über die Situation in Calais. Nach Angaben der Präfektur des Departements Pas-de-Calais haben sich demnach fünf Migrant_innen mit dem Coronavirus infiziert, von denen zwei genesen und drei isoliert worden seien. Insgesamt 290 Personen seien während des confinement (den französischen Ausgangsbeschränkungen) von den Behörden in Aufnahmezentren, Sportstätten und Hotels des Departements untergebracht worden.
Evakuierung und Unterbringung
Lokalen zivilgesellschaftliche Vereinigungen hatten frühzeitig eine Unterbringung der obdachlos in Zeltcamps lebenden Menschen in geeigneten Unterkünften gefordert; diese sollte nicht zwangsweise durchgesetzt werden, sondern im Einverständnis mit den Bewohner_innen des Jungle und der übrigen Camps geschehen. Als radikale Gegenposition hatte die konservative Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart, eine Internierung in ehemaligen Militäranlagen gefordert (siehe hier).
Rasch wurde deutlich, dass die Behörden nicht auf die Situation vorbereitet waren und nicht auf bestehende Unterbringungskapazitäten zurückgreifen konnten. Gleichzeitig dürften politische Gründe dazu geführt haben, dass eine Unterbringung in Calais selbst, etwa den zahlreichen leerstehenden Hotels, nicht in Erwägung gezogen wurde. Die Evakuierung erster Bewohner_innen des Jungle war daher erst für den 31. März angesetzt und wurde nach dem Bekanntwerden einer ersten Infektion zunächst ausgesetzt, um dann am 3. April zu beginnen (siehe hier, hier und hier). Bis zum 15. April stieg die Zahl der Evakuierten dann auf die genannten 290 Personen.
Etwa zeitgleich begann im benachbarten Departement Nord die – zwangsweise – Evakuierung des Camps La Linière, bei der etwa 200 Menschen in Unterkünfte gebracht wurden (siehe hier). Die Gesamtzahl der untergebrachten Migrant_innen liegt einen Monat nach dem Beginn des Confinement dabei bei etwa 500 Personen. Zum Vergleich: Eine vergleichbare Zahl prekär lebender Migrant_innen war in Brüssel bei Beginn der Krise binnen zweier Tage untergebracht worden (siehe hier).
Eine wichtige Forderung der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen in Calais war eine Unterbringung in Reichweite der Stadt. Grund dafür sind Erfahrungen der vergangenen Jahre. Denn nach der Zwangsräumung des bisber größten Jungle – einer Hüttenstadt mit zeitweise 10.000 Bewohner_innen – im Herbst 2016 waren die Geflüchteten auf Unterkünfte in ganz Frankreich verteilt worden. Die räumliche Distanz zum nordfranzösischen Grenzraum sollte eine Rückkehr nach Calais erschweren, die dann jedoch in großem Umfang einsetzte. Die Rückkehrer_innen bildeten dann gemeinsam mit neu eintreffenden Migrant_innen die Bevölkerung der allmählich wieder sichtbar werdenden Camps, nur dass das Leben in ihnen ungleich prekärer war als im zuvor zerstörten Jungle. Auch bei späteren Transfers kleinerer Gruppen in ortsferne Unterkünfte oder Jugendhilfeeinrichtungen wiederholte sich dieses Phänomen.
Vor diesem Hintergrund kritisieren die Hilfsorganisationen die geographische Lage der nun bereitgestellten Unterkünfte. Diese befinden sich in den Orten Saint-Martin-les-Boulogne, Merlimont, Fouquières-les-Béthune, Liévin, Berck-sur-Mer, Nédonchel und Croisilles und damit in einer Entfernung von 30 und 90, meist zwischen 50 bis 70 Kilometern von Calais. Eine Rückkehr in die Prekarität der Camps, um von dort aus die Migration nach Großbritannien fortsetzen zu können, ist also durchaus zu erwarten.
Dafür spricht auch eine am 19. April veröffentlichte Befragung der Hilsorganisation Care4Calais unter Geflüchteten in Calais und Grande-Synthe (siehe hier). Dabei habe sich gezeigt, dass Ängste hinsichtlich der Lebenssituation und Grundversorgung deutlich stärker wogen als die Angst vor dem Corona-Virus, während das Vertrauen in den französischen Staat fehlt. So äußerten 86% der Befragten Vorbehalte, in die vom Staat bereitgestellten Unterkünfte zu gehen. 53% befürchteten, dann nicht mehr nach Großbritannien zu kommen, andere äußerten die Furcht vor Inhaftierung.
Kritik, Rechtfertigung, Zahlenspiele
Zwischenzeitlich ist die Situation in Calais auch von internationalen Medien thematisiert worden. So berichteten die BBC am 11. April und Al Jazeera am 15. April ausführlich über den Jungle, ließen Bewohner_innen und Helfer_innen zu Wort kommen, zeigten Aufnahmen der Zeltcamps hinter den im Winter neu errichteten Zäunen und thematisierten die aktuelle Verschlechterung der Lebensbedingungen während der Corona-Pandemie. Bereits etwas früher hatten zivilgesellschaftliche Organisationen die fortdauernden Räumungen der Camps ohne Unterbringungslösung bei gleichzeitiger Behinderung der humanitären Arbeit öffentlich dokumentiert (siehe hier und hier). Zwei von ihnen, Auberge des Migrants und Utopia 56, hatten sich am 8. April in einem offenen Brief an den Präfekten des Departements Pas-de-Calais, Fabien Sudry, gewandt (siehe hier). Darin prangerten sie die Reduzierung und Behinderung lebensnotwenidger Versorgungsleistungen einschließlich des Zugangs zu Wasser, Nahrung und elektrischem Strom an, beschrieben die Verschlechterung der Lebensbedingungen und kündigten eine Fortführung ihrer Arbeit trotz drohender Sanktionen an. Kurz drauf adressierten eritreeische Bewohner_innen des Jungle einen weiteren offenen Brief an den Präfekten und die Medien, in der sie gewaltsame Übergriffe der Polizeieinheit CRS beschrieben (siehe hier).
Der Präfekt antwortete am 10. April auf den Brief der beiden zivilgesellschaftlichen Organisationen. In dem vierseitigen auf Twitter veröffentlichten Schreiben rechtfertigte er die Reduzierung der Versorgungsleistungen durch die Organisation La vie active, die im staatlichen Auftrag seit einigen Jahren jene Anlaufstelle für Getränke, Nahrung, Strom und mit Sanitäranlagen an der Rue des Huttes betreibt, um die herum sich 2019 der neue Jungle gebildet hat. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche hätten, so der Präfekt, die Umstellung der Nahrungsversorgung auf eine Art Lunchpakete, die Umstellung der Wasserversorgung auf die Verteilung von 5-Liter-Kanistern an drei Standorten und die Schließung des Zugangs zu elektrischem Strom erfordert. Die Versorgung sei jedoch auch auf diese Weise gewährleistet und die Migrant_innen hätten sich nicht darüber beschwert. (Zu den negative Folgen siehe hier). Der Präfekt betont die Legalität der “Operationen zur Beendigung der illegalen Besetzungen”, also der täglichen Räumungen mit anschließender Wiederbesiedlung der Camps, die “unter Garantie des Eigentumsrechts und des Respekts der Evakuierten erfolgten”. Dabei würden Unterkünfte angeboten, was die Hilfsorganisationen jedoch verschwiegen – gemeint sind offenbar die oben erwähnten sporadischen Transfers der letzten Jahre in Unterkünfte außerhalb der Region. Zu den Vorwürfen, die humanitäre Arbeit der lokalen Vereinigungen zu behindern, erklärt der Präfekt, diese könne weiterhin innerhalb der von der Präfektur festgesetzten zeitlicher Beschränkungen stattfinden und es seien lediglich einige Freiwillige mit Geldstrafen belegt worden, die sich nicht an Anweisungen gehalten hätten. Zu den von der eritreischen Community des Jungle beschriebenen Übergriffen kündigte er wie bei früheren Berichten dieser Art eine polizeiinterne Untersuchung an. – Erfahrungsgemäß verlaufen diese im Sande.
Parallel zu dieser Auseinandersetzung wiederholte sich ein “Zahlenkrieg” (France3) früherer Jahre um die Anzahl der obdachlos in Calais lebenden Migranten, d.h. auch um das Ausmaß des humanitären Problems und der Nichtgeltung humanitärer Standards. Während die zivilgesellschaftlichen Organisationen auf Basis ihrer täglichen Präsenz sowie der verteilten Hilfsgüter im April von etwa 1.000 bis 1.200 Personen ausgehen, nannte die Präfektur laut France3 eine Schätzung von 600 bis 650 Personen. Die erfolgte Unterbringung von 290 Personen zur Verhinderung einer Infektion mit dem Corona-Virus würde in der Lesart der Präfektur also knapp der Hälfte der Menschen geholfen haben, auf der Datenbasis der Hilfsorganisationen jedoch nur einem Viertel bis einem Drittel.
Utopia 56 kündigt Kooperation mit staatlichen Stellen auf
Utopia 56, die bislang am stärksten von den aktuellen polizeilichen Sanktionen betroffe Organisation, gab vor diesem Hintergung am 15. April bekannt, aus Protest bis auf weitere nicht mehr an Koordinationstreffen der Unterpräfektur von Calais mit den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen teilzunehmen. Diese Koordinationstreffen waren vor einigen Jahren trotz bestehender politischer und rechtlicher Differenzen als eine Art Runder Tisch eingerichtet worden. Zur Begründung schreibt Utopia 56:
“Seit der Gesundheitskrise nehmen wir jede Woche und in normalen Zeiten alle drei Monate zusammen mit anderen Verbänden an Beratungs- und Informationstreffen mit den staatlichen Stellen der Unterpräfektur Calais teil. Wenn wir lange geglaubt haben, dass diese Treffen der Unterpräfektur einen Einblick in die Realität vor Ort, in das Alltagsleben der Exilierten, so wie wir es sehen, ermöglichen würden, so ist dies nicht mehr der Fall. In den letzten drei Jahren haben diese Treffen weder Verbesserungen noch Fortschritte gebracht. […] Wir warnten vor der kommenden Gesundheitskatastrophe, wenn es keine Politik zum Schutz der in den Camps anwesenden Exilierten gäbe. Wir prangerten die Polizeigewalt an, unter der die Exilierten leiden.
Im Gegenzug haben wir Geldstrafen erhalten, obwohl unser tägliches Handeln vor Ort dazu dient, die Missachtung der Grundrechte der Menschen durch den Staat auszugleichen. Seit unserem letzten Treffen mit der Unterpräfektur haben wir von den Vertretern des Staates nichts als Verachtung erfahren, und wir haben beschlossen, dass dies das letzte Mal sein würde. […] Wir werden nicht mehr an diesen Treffen teilnehmen, solange die in Calais tätigen staatlichen Stellen die Realität der Erfahrung der Exilierten in ihrer Politik nicht berücksichtigen.”
Diese Weigerung, physische Realität zum Ausgangspunkt politischen Handelns zu machen, kennzeichnet das Verhalten kommunaler und staatlicher Behörden in Calais seit zwei Jahrzehnten. Der Virus hat dies nicht aufbrechen können.