Neue Recherchen dokumentieren eine Routine des Nichtrettung an der französisch-britischen Seegrenze
Recherchen britischer Journalist_innen belegen, dass an der britisch-französischen Seegrenze wiederholt die Rettung von Schlauchbooten unterlassen und verzögert wurde. Offenbar handelt es sich dabei nicht um Einzelfälle, sondern um eine Drift back-Praxis, die darauf setzt, dass Schlauchboote durch Wind und Strömung zurück in französische Gewässer getrieben werden – eine Praxis indirekter Pushbacks. Die Recherchen erhärten auch den Verdacht, dass die bislang schwerste Katastrophe auf der Kanalroute, bei der am 24. November 2021 mindestens 30 Menschen starben, mit diesen Routinen im Zusammenhang steht. Parallel veröffentlichte Recherchen der NGO Alarm Phone geben an einem aktuellen Fall detaillierte Einblicke in die Praxis des Zurückdriftenlassens und dokumentieren den schleichenden Wandel der britischen Küstenwache von der Seenotrettung hin zur Grenzsicherung.
Beiden Recherchen stützen sich auf interne Dokumente verschiedener britischer Stellen, insbesondere der Maritime and Coastguard Agency (MCA) mit ihrer Leitstelle in Dover, die auf Basis des Freedom of Information Act eingesehen werden konnten. Die so gewonnenen Informationen konnten mit öffentlich zugänglichen nautischen Daten kombiniert und von Expert_innen begutachtet werden.
Wichtig für das Verständnis der Recherchen ist ihr Zusammenhang mit der tödlichen Havarie am 24. November 2021, die in Frankreich und Großbritannien Gegenstand interner Untersuchungen und strafrechtlicher Ermittlungen ist. Ein Jahr nach der Katastrophe hatte die französische Zeitung Le Monde Erkenntnisse der französischen Behörden öffentlich gemacht, die ein eklatantes Fehlverhalten der dortigen Rettungsleitstelle und massive Kommunikationsprobleme mit deren britischen Kolleg_innen belegen (siehe hier). Bereits unmittelbar nach der Katastrophe berichteten die beiden Überlebenden und sowie Angehörige von Opfern, dass das Schlauchboot aus britischen Gewässern über die Seegrenze zurück nach Frankreich gedriftet sei, während die alarmierten Leitstellen beider Länder jeweils auf die andere Seite verwiesen und stundenlang keine Rettung erfolgte. Während der so verstrichenen Zeit starben die meisten der Todesopfer (siehe hier, hier und hier). Inzwischen gilt der skizzierte Sachverhalt als unbestritten.
Die aktuellen Recherchen helfen einerseits, den Kontext dieser Katastrophe und das institutionelle Versagen der zuständigen Stellen besser zu verstehen. Zum anderen bestätigen sie den von regionalen NGOs bereits länger gehegten Verdacht, dass Großbritannien Schlauchbotte bewusst über die Seegrenze zurück nach Frankreich treiben lässt, statt die erforderliche Hilfe zu veranlassen.
Fall 1: November 2021
Am 29. April 2023 veröffentlichten Aaron Walawalkar und Eleanor Rose von Liberty Investigates, einer Gruppe investigativer Journalist_innen, und Mark Townsend von der zur Guardian-Mediengruppe gehörenden Sonntagszeitung The Observer die Ergebnisse ihrer Recherchen (unter verschiedenen Überschriften hier und hier). In einem zweiten Text mit dem Titel Horror beyond words stellte das Team weitere Details seiner Anylase vor (hier und hier).
Die Recherche konzentriert sich auf den Monat November 2021, als besonders viele Boote den Ärmelkanal passierten, es aufgrund der umschlagenden Witterung vermehrt zu Notfällen kam und am 24. November schließlich mindestens 30 Menschen starben. Die Autor_innen wollen insbesondere die Defizite und Routinen im Vorfeld dieser Havarie ausleuchten.
Ihre vielleicht wichtigste Erkenntnis ist, dass die zuständige Leitstelle der Maritime and Coastguard Agency (MCA) in Dover eine Vielzahl von Notrufen in Seenot geratender Schlauchboote „effektiv ignorierte“: „Rund 440 Menschen wurden offenbar treiben gelassen (left adrift), nachdem die Küstenwache keine Rettungsschiffe zu 19 gemeldeten kleinen Booten mit Migranten in britischen Gewässern geschickt hatte.“
Die dokumentierten Fälle ereigneten sich an mehreren Tagen von Anfang bis Mitte November 2021, also in den dreieinhalb Wochen vor der Katastrophe. Eine von Liberty Investigates erstellte Karte zeigt außerdem, dass sich die Vorfälle, ähnlich wie die Havarie selbst, im britischen Hoheitsgebiet nahe der Seegrenze ereigneten:
Nach geltendem Recht hätte unabhängig von der Position eines Bootes im eigenen oder fremden Hoheitsgebiet eine Rettung veranlasst werden müssen. Gemäß der eigenen Vorschriften hätten Vorfälle mit Flüchtlingsbooten außerdem grundsätzlich als Notlagen eingestuft und entsprechend eine Rettungsaktion veranlasst werden müssen.
Die ausgewerteten Daten zeigen, dass dies in vielen Fällen nicht geschah. So wurden am 3. November gemeldete Vorfälle „geschlossen“, ohne dass das Personal der Leitstelle Gewissheit darüber hatte, ob die Menschen tatsächlich in Sicherheit waren: „Mindestens 112 Menschen wurden allein an diesem Tag aufgrund von Verzögerungen und Fehlern bei fünf Vorfällen treiben gelassen.“
Die Sichtung einer internen Datenbank durch Expert_innen zeigte zudem, „dass weitere 14 Boote mit 328 Menschen an Bord am 11., 16. und 20. November nicht gerettet wurden“. Ein Abgleich der Datenbank mit Marine Traffic (Website zur Verfolgung von Schiffsbewegungen) ergab, „dass kein Rettungsboot oder Hubschrauber der Küstenwache, der Border Force oder der RNLI [zivile britische Rettungsgesellschaft] innerhalb von vier Stunden in die Nähe der aufgezeichneten Koordinaten kam.“
Einen in dieser Untersuchung enthaltenen Vorfall am 20. November 2021 hatte damals auch die französische Organisation Utopia 56 öffentlich gemacht und zudem die Erklärung eines Betroffenen vorgelegt (siehe hier). Dieser hatte einen Notruf abgesetzt, als das Schlauchboot mit 23 Passagier_innen in Seenot geriet, weil der Treibstoff ausgegangen war. Er erlebte eine Art Pingpong-Verhalten der französischen und britischen Leitstellen, die wechselseitig aufeinander verwiesen. Die britischen Journalist_innen haben diesen Vorfall in den ausgewerteten Dokumenten identifiziert und ebenfalls mit einem Überlebenden gesprochen: „Amjad (nicht sein richtiger Name) aus dem Irak gab an, dass er nur dank des Eingreifens der NGO Utopia 56 überlebte, nachdem britische und französische Anrufer ihm jeweils mitgeteilt hatten, dass er sich nicht in ihren Gewässern befinde und die andere Seite anrufen solle.“ Vier Tage später geschah die tödliche Katastrophe. Die beiden Überlebenden berichteten von einem vergleichbaren Verhalten der Leitstellen.
Die Journalist_innen konnten keine Informationen darüber erhalten, wieviele der rund 440 im November 2021 sich selbst überlassenen Passagier_innen überlebt haben oder nicht. Zwar können wir davon ausgehen, dass eine größere Havarie mit zahlreichen Toten nicht unentdeckt geblieben wäre, aber dennoch könnte es Todes- und Vermisstenfälle gegeben haben.
Denn in den ausgewerteten Unterlagen fand sich noch ein weiterer Vorfall, der auf den 3. November 2021 datiert (in der oben genannten Zählung nicht inbegriffen). An diesem Tag alarmierte eine Frau die Polizei von Hampshire, dass ihr Bruder den Ärmelkanal überquere und offensichtlich in Not sei. „Zwanzig Minuten zuvor hatte er per SMS mitgeteilt, dass Schmuggler begonnen hatten, Passagiere über Bord zu stoßen.“ Die Polizei habe die Information an die britische Küstenwache weitergeleitet, die den Fall unter der incident number 039132 aufnahm: „Via translator, from sister, her brother texted her to say they had been kicked off by smugglers and were in the water in position […] and they are in the water.“ Dem Protokoll zufolge wurde der Fall knapp vier Stunden später mit der Begründung geschlossen, dass sich die Position des Vorfalls in der französischen Such- und Rettungsregion (SRR) befinde. Für die Zwischenzeit lässt das Protokoll keinerlei Maßnahmen zur Rettung erkennen. Ob es auf der französischen Seite zu einer Rettung kam oder ob möglicherweise Menschen starben und ein Tötungsdelikt ungeahndet blieb, ist nicht bekannt.
Ein von den Journalist_innen zu Rate gezogener früherer leitender Mitarbeiter der Küstenwache erklärte, dass dieser Fall geradezu lehrbuchhaft die Definition eines Notfalls erfülle, noch dazu angesichts der niedrigen Wassertemperaturen: „Such- und Rettungsmaßnahmen sollten unverzüglich eingeleitet werden.“
Ein wesentlicher Grund für das Unterbleiben der gebotenen Hilfe ist aus Sicht der Jornalist_innen die Überforderung der Bediensteten bei gleichzeitiger personelle Unterbesetzung der Leitstellen. Die Personalzahl der Leitstelle von Dover habe im November 2021 unter den internen Vorgaben gelegen, obschon die Zahl der Bootspassagen und der Notfälle zu dieser Zeit außergewöhnlich hoch war. Zum Zeitpunkt der tödlichen Havarie am 24. November 2021 befanden sich statt der vorgesehehen drei lediglich zwei Bedienstete im Einsatz, von denen einer noch in Ausbildung war. Generell, so der bereits zitierte Ex-Küstenwächter, handle es sich häufig um Nachwuchskräfte mit wenig Führung und Anleitung.
Vor dem Hintergrund dieser neuen Recherchen erweisen sich die Aussagen der Überlebenden der Katastrophe vom 24. November 2021 einmal mehr als schlüssig. Was sie erlebten, war kein Einzelfall, sondern offenbar Normalität.
Der zweite Fall – das von Alarm Phone untersuchte Zurückdriftenlassen eines Schlachboots zu Beginn dieses Jahres – macht deutlich, dass es nicht allein um mangelndes Personal und knappe Ressoucen geht. Das Herabstufen und Ignorieren von Notlagen birgt vielmehr eine antimigrantische Routine.
Fall 2: Januar 2023
Am 2. Januar 2023 erlebte die Besatzung des französischen Zollschiffs Kermorvan einen Fall aktiver Nichtrettung im Ärmelkanal. Entsetzt über das Geschehen, machte sie den Vorfall über die Zollgewerkschaft Solidaires Douanes Gardes-Côtes im selben Monat öffentlich (siehe hier).
Die Channel Group von Alarm Phone hat den Fall nun genauer untersucht. Auch diese Recherche stützt sich auf interne Dokumente der Maritime and Coastguard Agency. Die Daten belegen: Statt dem Schlauchboot mit 38 Passagier_innen Hilfe zu leisten, „organisierten Beamte der britischen Küstenwache die Rückführung von Menschen aus britischen Gewässern nach Frankreich mit subtileren Mitteln: Sie ließen ein Schlauchboot zurücktreiben, als sie dachten, sie kämen damit durch.“
Ein von Alarm Phone online gestelltes Incident Log der britischen Küstenwache ermöglicht die präzise Rekonstuktion des Vorfalls, der unter der Nummer 500130 protokolliert wurde. Diese Daten bestätigen die Aussage der französischen Zöllner_innen, dass sie für einen Rettungseinsatz bereitstanden, jedoch die Auskunft erhielten, das britische Schiff Typhoon würde die Rettung durchführen, und daraufhin das Einsatzgebiet verließen. Diese Rettung erfolgte jedoch nicht. „Stattdessen“, so Alarm Phone, sah die britische Küstenwache zu, „wie die Menschen von Wind und Gezeiten zurück in die französische Such- und Rettungsregion (SRR) getrieben wurden, wo es kein französisches Schiff gab, das ihnen helfen konnte.“
Alarm Phone analysiert vor allem, auf welche Weise dies geschah. Demnach waren die Leitstellen beider Länder am frühen Morgen des 2. Januar von Alarm Phone und Utopia 56 darüber informiert worden, dass sie einen Notruf des Bootes erhalten hätten und dass es sich um einen Notfall im seerechtlichen Sinne handle. Gegen Mittag gelang es der französischen Leitstelle, das Boot zu lokalisieren, woraufhin sie das Zollschiff Kermorvan dorthin schickte. Gleichzeitig beorderte die britische Küstenwache einen Navy-Hubschrauber dorthin, um Sichtkontakt aufzunehmen. „Zehn Minuten später begann die Küstenwache von Dover mit der Organisation einer Rettungsaktion und beauftragte das Border-Force-Schiff Typhoon, sich zum Sandettie Light Vessel zu begeben, wo das Schlauchboot voraussichtlich in die britische SRR einfahren würde.“
Kurz vor 15 Uhr erklärte die Typhoon, zu der Rettungsaktion bereit zu sein (laut Protokoll: „Were [sic] happy to undertake rescue“). Knapp zehn Minuten später verzeichnet das Protokoll eine officer message, die jedoch geschwärzt ist, aber möglicherweise ausschlaggebend dafür war, „dass die Typhoon ihre Rettung nicht durchführen würde.“ Das Schlauchboot befand sich zu diesem Zeitpunkt noch immer in der französischen SRR und bewegte sich weiterhin auf die britische Zone zu.
Etwa eine Stunde später änderte die Küstenwache ihre Anweisungen und beorderte um 16:12 Uhr ein weiteres Boot, die Hurricane der Border Force, aus dem Hafen von Dover zur Typhoon. Kurz darauf bestimmte sie, dass die Hurricane die Passagier_innen des Schlauchboots retten und die Typhoon den Einsatz lediglich flankieren solle. Statt ein bereits präsentes Schiff mit der Rettung zu beauftragen, sollte diese nun also durch ein Schiff durchgeführt werden, das rund eine Stunde Anfahrt zum Einsatzort benötigte.
Um 16:29 Uhr meldete die Typhoon, dass sich das Schlauchboot innerhalb der britischen Rettungszone befinde, und teilte mit: „All is well on board and no lifejackest [sic] being worn.“ Alarmphone weist auf die Widersprüchlichkeit dieser Aussage hin – wie kann die Situation der Passagier_innen ohne Rettungswesten an Bord eines Schlauchboots mit Motorschaden in der meistbefahrenen Schifffahrtsstraße der Welt bei einbrechender Dunkelheit in Ordnung sein? Jedenfalls führte die Typhoon keine Rettung durch und wartete auf die Ankunft der Hurricane aus Dover.
In dieser Situation kommunizierte die französische Kermorvan, wie eines ihrer Besatzungsmitglied später berichtete, mit der Typhoon und erhielt die Auskunft, diese würde die Rettung duchführen. Im Vertrauen darauf verließ die Kermorvan das entsprechende Seegebiet.
Um 16:53 Uhr teilte die Typhoon der Küstenwache mit, dass der Motor des Schlauchboots ausgefallen sei und es zurück in französische Gewässer treibe (laut Protokoll: „drifting back into Franch waters“), wo keine Rettungskräfte mehr präsent seien („there is no French asset in the area“). Ausdrücklich bestätigte die Typhoon die später vom britischen Verteidigungsministerium bestrittene Tatsache, dass das Boot es in britische Gewässer geschafft habe.
Gemäß der geltenden Richtlinien der Küstenwache, so Alarm Phone, hätte „der Vorfall zu diesem Zeitpunkt zur Notlage („distress phase“) erklärt und die Typhoon angewiesen werden müssen, die Rettung durchzuführen. Nach dem internationalen Seerecht gab es nichts, was die Typhoon rechtlich daran gehindert hätte, die Menschen zu retten, selbst wenn das Schiff wieder in französische Gewässer eingefahren wäre. Stattdessen wies die Küstenwache von Dover die Typhoon an, sich bereitzuhalten und zu beobachten, wie das Schlauchboot zurück nach Frankreich trieb.“
Nach dem Zurückdriften über die Seegrenze setzte die britische Küstenwache ihre französischen Kolleg_innen in Kenntnis, welche die Kermorvan nun umgehend zum Einsatzort zurückschickten. Nach einstündiger Suche fand deren Besatzung das Schlauchboot gegen 18 Uhr wieder. Trotz widriger Bedingungen versuchten die Pasagier_innen weiterhin, britisches Hoheitsgebiet zu erreichen, schafften es aber nicht. Schließlich wurden sie gegen 20 Uhr von der Kermorvan geborgen und gegen 22 Uhr im Hafen von Calais an Land gebracht.
Nach den geltenden Richtlinien sind Boote von Geflüchteten generell als Notlagen anzusehen, lediglich bei Erfüllung strenger Kriterien, die in diesem Fall nicht gegeben waren, ist eine Herabstufung zulässig. Das Protokoll der britischen Küstenwache belegt jedoch, dass das Boot beim Erreichen britischer Gewässer von der Notlage (distress phase) zur Alarmlage (alert phase) herabgestuft wurde. Erst als am Abend eine erneute Einfahrt in das britische Gebiet bevorzustehen schien, wurde es korrekt als Notfall angesehen, ohne dass sich die äußeren Bedingungen erkennbar verändert hätten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die britische Küstenwache ein zur Rettung bereites Schiff (Typhoon) anwies, die Rettung nicht durchzuführen und auf die Ankunft eines zweiten Schiffs (Hurricane) zu warten, obwohl eine sofortige Rettung geboten gewesen wäre. Ihr war bekannt, dass das Schlauchboot in französische Gewässer zurücktreiben würde, wo aufgrund einer fehlerhaften Kommunikation kein französisches Schiff (Kermorvan) mehr präsent war. Die Herabstufung vom Not- zum Alarmfall dürfte der formalen Absicherung dieses Vorgehens gedient haben. All dies geschah wenige Wochen nach einer weiteren tödlichen Havarie im Ärmelkanal, bei der am 14. Dezember 2022 vier Menschen starben und bis zu sechs weitere vermisst werden (siehe hier, hier und hier).
Drift back-Taktik
Laut Alarm Phone werden Dift back-Taktiken in anderen Seegebieten wie etwa der Ägäis regelmäßig von Küstenwachen eingesetzt. „Indem die Gewalt, mit der die Menschen über die Grenze zurückgedrängt werden, auf das Meer und den Wind verlagert wird, können die Täter ihr Handeln im Vergleich zu nackten Push- oder Pullbacks in einem gewissen Maß bestreiten.“ Wie der dokumentierte Fall zeigt, nutzte auch die britische Küstenwache eine sich bietende Gelegenheit, um ein Boot nach Frankreich zurückdriften zu lassen. „Dies war nicht das erste Mal, dass wir eine solche kalkulierte Unterlassung der Hilfeleistung durch die britische Such- und Rettungsbehörde erlebt haben. Diese Praxis könnte eine Rolle beim Tod von mindestens 30 Menschen bei dem Schiffsunglück vom 24. November 2021 gespielt haben.“
Dennoch habe die Situation im Ärmelkanal bislang nicht das Ausmaß direkter und indirekter Gewalt anderer maririmer Außengrenzen der EU erreicht: „Alarm Phone berichtet regelmäßig, wie staatliche Behörden in südlichen Regionen aktiv Boote angreifen, Motoren abstellen und Treibstoff stehlen, um sie dann den Elementen zu überlassen, damit die Passagiere nicht nach Europa gelangen können. Derartige Angriffe durch die Polizei sind im Ärmelkanal eher die Ausnahme (auch wenn sie vorkommen), vielmehr verteilt sich die Grenzgewalt auf die ‚feindselige Umwelt‘ (hostile environment) der französischen Strände und des britischen Hinterlands.“
Gleichwohl scheint eine fatale Gemengelage entstanden zu sein, die das Zurückdriftenlassen begünstigt. Personeller Unterbesetzung, Unerfahrenheit und Überforderung des Personals bergen stets die Gefahr informeller Praktiken, um eine problametische Situation irgendwie zu bewältigen oder sich die Arbeit einfach nur leicht zu machen. In Jahren des kontinuierlichen Anstiegs der Bootspassagen hat die britische Regierung zwar große Summen in Sekuritisierung und Abschreckung investiert (siehe zuletzt hier), es jedoch unterlassen, die Kapazitäten der Seenotrettung anzupassen. Hinzu kommt ein toxischer Diskurs, der die small boats in die Nähe einer Invasion rückt, einen Kontrollverlust über die Grenze proklamiert und die betroffenen Menschen schlicht entmenschlicht.
Noch viel entscheidener ist, so argumentiert Alarm Phone, ein Funktionswandel der Küstenwache selbst.
„Die Folge dieser Politisierung ist, dass die britische Küstenwache nun Hand in Hand mit der Border Force (und bis vor kurzem auch mit der Royal Navy) arbeitet, um die Grenzen des Vereinigten Königreichs zu überwachen sowie die Überwachung und das Abfangen der small boats zu koordinieren.“ Möglichst alle Boote sollen vor Erreichen des Festlandes abgefangen, Passier_innen möglichst lückenlos erfasst und Daten für eine mögliche Kriminalisierung vermeintlicher Steuerleute erhoben werden. Die Illegal Migration Bill, der momentane Gesetzentwurf der britischen Regierung zur Migrationspolitik, schreibt die Abschiebung bereits in die ersten Momente der Ankunft ein.
Die Küstenwache ist, so Alarm Phone, zu einem „Schlüsselakteur bei der Umwandlung des Ärmelkanals in einen repressiven Raum der Migrationsbekämpfung (immigration enforcement pen) geworden“ und erweist sich als „williger Akteur im staatlichen Spektakel der Kontrolle der so genannten ‚Migranteninvasion‘.“ Die genuine Aufgabe, Leben zu retten, scheint „der politischen Priorität der ‚Grenzsicherung‘ untergeordnet worden zu sein“.
Siehe zu dieser Thematik auch den Podcast Did the UK coastguard ignore desperate calls for help? des Guardian vom 22. Mai 2023.