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Channel crossings & UK

Erhöhte Suizidgefahr am Gatwick Airport

Über das Scheitern der Operation Sillath und die Verhältnisse in einer britischen Abschiebehaftanstalt

„Die Umstände in Brook House im Zusammenhang mit dem Charterflugprogramm bedeuteten, dass es kein sicherer Ort für schutzbedürftige Männer war, die den Kanal in kleinen Booten überquert hatten. Dies zeigte sich in einem hohen Maß an Selbstverletzungen und Suizidgedanken.“ Mit dieser Feststellung umriss das Independent Monitoring Board, ein unabhängiges Kontrollgremium, am 21. Mai 2021 die Zustände im Abschiebehaftzentrum Brook House im Flughafen Gatwick von Juli bis Dezember 2020. Während dieser Zeit wurde die Einrichtung für die Inhaftierung von Geflüchteten genutzt, die den Ärmelkanal in kleinen Booten überquert hatten und ungewollt in den Fokus einer aufgeheizten populistischen Debatte geraten waren. Unter der Bezeichnung Operation Sillath reagierte die Regierung Johnson mit einer konzertierten Aktion, um möglichst viele Channel crossers in EU-Staaten – darunter die Bundesrepublik Deutschland – abzuschieben, bevor Großbritannien mit dem Brexit zur Jahreswende 2020/21 auch den Geltungsbereich der Dublin-Verordnung verließ und damit aus den Regularien für innereuropäische Abschiebungen ausschied (siehe hier, hier, hier und hier).

Wie inzwischen bekannt ist, konnte die Regierung sehr viel weniger Abschiebungen durchsetzen, als sie anvisiert hatte. Der Bericht des Independent Monitoring Board legt nun offen, dass dieses Scheitern mit massiven Verletzungen der Rechte der Betroffenen einherging. Insbesondere Fälle von Gewalt gegen die eigene Person kamen in diesem Kontext fünfmal häufiger vor als sonst. „Die Zahl derer, die auf einem als Rule 35 bekannten Gefährdungsregister stehen, stieg im Vergleich zu den ersten Monaten des Jahres fast um das Fünffache, von 85 auf 392“, schrieb der Guardian unter Berufung auf den Bericht und zitierte die Vorsitzende des Independent Monitoring Board, Mary Molyneux, mit der Feststellung: „Die Auswirkungen des ungewöhnlich komprimierten Charterflugprogramms des Innenministeriums auf eine besonders gefährdete Gruppe von Gefangenen haben in den letzten fünf Monaten des Jahres 2020 zu einem noch nie dagewesenen Ausmaß an Selbstverletzungen, Selbstmordgedanken und -versuchen geführt.“

Die Arbeit der Independent Monitoring Boards ist im britischen Immigration and Asylum Act 1999 geregelt. Das Gesetz sieht vor, dass jedes Abschiebehaftzentrum (Immigration Removal Centre, IRC) – in diesem Fall das Brook House IRC – im Rahmen eines solchen Gremiums durch Mitglieder der jeweiligen Kommune überwacht wird. Die Boards sind u.a. verpflichtet, Missstände bei der Versorgung und Behandlung der Gefangenen zu dokumentieren und an das zuständige Ministerium zu melden. Einmal pro Jahr müssen sie Jahresberichte vorlegen. Das nun veröffentlichte Dokument ist ein solcher Jahresbericht.

Das Abschiebehaftzentrum Brook House existiert seit 2009. Es ist für männliche Gefangene vorgesehen und verfügt über eine Kapazität von 448 Plätzen, die meist zu etwa 80 % ausgelastet ist. Wegen der Corona-Pandemie wurde die Kapazität 2020 auf 209 Plätze reduziert, von denen durchschnittlich 95 belegt waren. Als es im Dezember zu einem Corona-Ausbruch kam, wurden die meisten Gefangenen verlegt, andere wurden nach dem Ende des Charterflugprogramms entlassen. Im Mai 2020 fand ein Wechsel der privaten Betreiberfirma von G4S zu Serco statt, allerdings waren und sind auch Teams des Innenministeriums sowie andere Firmen und Institutionen involviert. Das Zentrum befindet sich 200 Meter von der Hauptlandebahn des Flughafens Gatwick entfernt. Seitdem die BBC im September 2017 über Misshandlungen von Gefangenen berichtet hatte, ist eine Untersuchung anhängig, ab November 2021 rechnet das Independent Monitoring Board mit dem Beginn der Zeugenbefragungen.

Das Board stellt die Einrichtung nicht grundsätzlich in Frage; es benennt neben Mängeln und Missständen eine Reihe von Verbesserungen, erkennt die aus unterschiedlichen Gründen schwierigen Arbeitsbedingungen des Personals an und bewertet das Verhalten gegenüber den Gefangenen einigermaßen positiv. Umso schwerer wiegt, was das Gremium über Veränderungen sagt, die nach der Belegung mit Channel crossers eintraten: „Aufgrund unserer […] Beobachtungen ist der Vorstand der Ansicht, dass die Gefangenen im Brook House im Allgemeinen human behandelt werden. Das Board ist jedoch der Ansicht, dass die Umstände in Brook House im Zusammenhang mit dem Charterprogramm […] in den letzten Monaten des Jahres 2020 zu einer unmenschlichen Behandlung der gesamten Gruppe der Inhaftierten durch das Innenministerium führten.“

Dem Bericht zufolge waren von Juli bis Dezember hauptsächlich Männer aus Iran, Irak, Kuwait, Sudan, Syrien und Jemen inhaftiert. Diese waren „besonders schutzbedürftig“ und zeigten Traumata, „die sie in ihren Herkunftsländern und/oder während ihrer Reise erlebt hatten“, verfügten nur über „begrenzte Englischkenntnisse und ein begrenztes Wissen über die Systeme im Vereinigten Königreich und darüber, wie sie ihre Rechte und Ansprüche geltend machen können“. „Den Vorstandsmitgliedern erschienen die Inhaftierten oft ängstlich und besorgt über ihre Abschiebung und das, was sie erwarten könnte; sie waren manchmal verwirrt über ihre Inhaftierung, und sie waren auch von der Hoffnungslosigkeit und Angst der Menschen um sie herum betroffen. Der Ernst dieser Situation zeigte sich in den Statistiken über Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken.“

Nicht individuelle Gründe waren nach Beobachtung des Board für die erhöhte Suizidgefahr ausschlaggebend, sondern die politische Agenda, die in der Operation Sillath zum Ausdruck kam. „Das Board ist der Ansicht, dass der signifikante Anstieg des Selbstverletzungs- und Selbstmordrisikos in direktem Zusammenhang mit der höheren Gefährdung der Gruppe der Bootspassagiere und dem intensiven Charterflugprogramm […] steht.“

Die erhöhte Suizidgefahr zeigt sich in der folgenden Grafik des Board. Diese zeigt in blauer Farbe den Anteil sogenannter ACDTs (Assessment Care in Detention and Teamwork, dies sind angeordnete Überwachungsmaßnahmen zum Schutz der Gefangenen) und in oranger Farbe den Anteil der Selbstverletzungen. Der Anstieg seit dem Beginn des Charterflugprogramms ist deutlich erkennbar. (Der auffällige Verlauf am Ende der Kurven ist lediglich ein statistischer Effekt der geringen Belegung nach dem Corona-Ausbruch.)

Überwachungsmaßnahmen wegen Suizidgefahr (blau) und Akte von Selbstverletzung (orange) unter den Gefangenen in Brook House. (Quelle: Independent Monitoring Board)

Das Board erläutert hierzu: „ACDTs werden eingesetzt, um das Wohlergehen von Häftlingen zu überwachen, wenn die Sorge besteht, dass sie gefährdet sind, typischerweise durch Selbstmord oder Selbstverletzung oder aufgrund eines medizinischen Zustands. Zusammenfassende Informationen, die vom Serco Safer Community Team für die Monate August bis Dezember erstellt wurden, zeigten, dass von 205 ACDTs 51 aufgrund von tatsächlicher Selbstverletzung, 64 aufgrund der Androhung von Selbstverletzung und 59 aufgrund von Selbstmordgedanken eingeleitet wurden. Die Statistiken aus der zweiten Jahreshälfte zeigen eine starke Korrelation des erhöhten Auftretens von ACDTs, Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken mit der veränderten Zusammensetzung der Inhaftierten und dem konzentrierten Charterflugprogramm. Die Vorfälle von Selbstverletzungen stiegen im August stark an und gingen erst im Dezember mit dem Auslaufen der Charterflüge und der anschließenden Entlassung der meisten Häftlinge zurück.“

Die Zahl der ACDTs habe die verzweifelte Situation für alle Beteiligten – Gefangene wie Personal – besonders sichtbar gemacht und das allgemeine Klima von Angst und Stress dadurch noch verstärkt. „Bei unseren Besuchen in der Einrichtung und in Gesprächen mit Gefangenen und Mitarbeitern während dieser Zeit hatten wir den Eindruck, dass unter den Gefangenen in der Regel eine Atmosphäre der Anspannung, Angst und Verzweiflung herrschte und das Personal, das sich um sie kümmerte, unter großem Stress stand. Bei häufigen Gelegenheiten hörten die Mitglieder des Board, wie Häftlinge in ACDT-Besprechungen ganz offen sagten, dass sie sich umbringen würden, wenn sie eine Abschiebungsanordnung erhielten. In Gesprächen hörten wir, dass Inhaftierte davon sprachen, in den Ländern, in die sie abgeschoben werden sollten, Rassismus, Obdachlosigkeit und Hunger ausgesetzt zu sein.“

In dieser Zeit hatte die journalistische Initiative Statewatch gemeinsam mit Calais Migrant Solidarity einen Bericht über die Situation in Brook House veröffentlicht, in dem ebenfalls Suizidversuche und Selbstverletzungen von Gefangenen sowie gewaltsam durchgesetzte Abschiebungen beschrieben wurden, darunter die Abschiebung eines verletzten und noch blutenden Gefangenen nach Düsseldorf (siehe hier).

Obschon der Bericht des Board nicht auf Einzelfälle eingeht, bestätigt er solche Ereignisse: „Das Board war besonders besorgt darüber, dass Inhaftierte abgeschoben wurden, während sie sich in einem Zustand der Not oder Verletzung nach einer Selbstverletzung befanden, was wir als unmenschlich empfinden und was sie einem weiteren Risiko aussetzt. Wir haben Beispiele dafür, dass ein Häftling direkt nach einem Krankenhausaufenthalt wegen seiner Verletzungen in ein Flugzeug gebracht wurde.“ In einem anderen Fall wurde ein Mann „blutend und teilweise unbekleidet zu einem Charterflug gebracht. Aus den Aufzeichnungen des Board geht hervor, dass mindestens 26 Gefangene mit Charterflügen abgeschoben wurden, während sie sich in ACDTs befanden“.

Fälle von gewalttätigem Verhalten der Bediensteten gegen Gefangene seien im Jahr 2020 zwar in absoluten Zahlen gesunken, hätten in Relation zur verringerten Zahl der Insassen aber zugenommen. Hatten 2018 und 2019 durchschnittlich 7 bis 8 % der Gefangnen pro Monat Gewalt erfahren, so stieg die Zahl in 2020 auf 17 %. Als Hauptgrund gab das Personal die Verhinderung von Selbstverletzungen an.

Während die Operation Sillath also die Inhumanität der Haft erhöhte und es vielleicht nur Zufällen zu verdanken ist, dass niemand der zutiefst verzweifelten und sich auf diese Weise wehrenden Männer zu Tode kam, stieg auch die Zahl der Haftentlassungen signifikant von 44 % im Jahresdurchschnitt 2019 auf 53 % im Jahresdurchschnitt 2020. Dies werfe, so das Board, einmal mehr „die Frage auf, ob so viele Inhaftierte überhaupt hätten inhaftiert werden sollen. […] Die Frage ist sogar noch relevanter in der Zeit von August bis Dezember, als das Innenministerium sein Programm zur Abschiebung nach dem Dubliner Übereinkommen durchführte. In dieser Zeit stiegen die Freilassungen sogar auf 72 % aller Abgänge und die Abschiebungsrate sank auf 21 %. Nach Schätzungen der Behörde wurden zwischen August und Dezember über 600 Häftlinge, die für unterschiedlich lange Zeit in Brook House inhaftiert waren, um sie auf die Abschiebung aus dem Vereinigten Königreich vorzubereiten, stattdessen entlassen.“

Ursprünglich seien im Rahmen des Charterprogramms 26 Abschiebeflüge geplant gewesen. Einige wurden gestrichen oder gerichtlich untersagt. Nach Schätzung des Board wurden am Ende „weniger als 120 Häftlinge“ tatsächlich abgeschoben.