Die Initiativen Refugee Rights Europe und Human Rights Observers veröffentlichten jüngst eine Untersuchung der Menschenrechtslage in Calais und Grande-Synthe während der ersten Welle der Corona-Pandemie von März bis Juni 2020 (siehe hier). Ihr Bericht zeigte, dass die zuvor etablierten Routinen, physischen und psychischen Druck auf die Exilierten auszuüben, während des Lockdown nahezu unverändert fortgesetzt wurden. In erster Linie waren dies Räumungen im Zweitage-Turnus (mit anschließender Rückkehr der Betroffenen auf das geräumte Gelände), Festnahmen (oft ohne erkennbaren Grund) und die Wegnahme persönlichen Eigentums. Die monatlichen Berichte der Human Rights Observers illustrieren nun, wie sich die Menschenrechtslage danach, also zwischen den beiden Wellen der Seuche, entwickelte.
Anders als die „großen Räumungen“, die im Juli, August und September zur Schließung ganzer Camps führten und mit dem Transport hunderter Menschen in teils weit entlegene Landesteile einhergingen (siehe hier, hier, hier, hier, hier und hier), zielen die „kleinen Räumungen“ (neben der Schwächung der rechtlichen Position der Bewohner_innen) auf Zermürbung ab: Wer in einem Camp lebt, muss regelmäßig am Morgen Zelt, Schlafsack, Gepäck und persönliche Gegenstände abbauen, sichern, zwischenlagern und nach dem Ende der Operation wieder aufbauen, wird dadurch also in ständigen Streß versetzt und daran gehindert, festere Behausungen wie etwa Hütten zu errichten.
Diese Praxis wurde in der ersten Jahreshälfte in Calais ungefähr 100 mal im Monat dokumentiert. Während des Sommers blieb die Zahl hoch, sank jedoch stetig von 107 im Juni auf 80 im Juli, 45 im August und 41 im September. Insgesamt fanden seit Jahresbeginn in Calais 761 Räumungen zuzüglich eines Dunkelfeldes undokumentiert gebliebener Operationen statt.
Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der dokumentierten Festnahmen während einer Räumung von 27 (Juni) auf 39 (Juli), 26 (August) und 70 (September) tendenziell zu.
Das Gleiche gilt für die Wegnahme bzw. Zerstörung von Eigentum: Wurden im Juni 33 Zelte beschlagnahmt, waren es im Juli 564, im August 133 und im September 173 (zuzüglich 310 Zelte bei den großen Räumungsoperationen). Insgesamt gingen auf diese Weise also inmitten einer humanitären Notlage mindestens 1.213 Zelte verloren. Hinzu kam in den gleichen vier Monaten die Wegnahme von 117 Schlafsäcken (davon 59 im August), 55 Fahrrädern, 47 Rücksäcken, 36 Matratzen, 24 Stühlen sowie Kleidung in 25 Fällen.
In Grande-Synthe bei Dunkerque verfolgen die Polizeibehörden eine andere Taktik, in der die für Calais typischen „kleinen Räumungen“ in kurzen Zeitabständen keine Rolle spielen. Entsprechend ist die Zahl der dokumentierten Räumungen geringer und betrug im Juni 3, im Juli 12, im August 8 und im September 10. Festgenommen wurden bei solchen Operationen im Juni 6, im Juli 9, im August 6 und im September 40 Personen. 25 Zelte wurden im Juni, mindestens 50 im Juli, 65 im August und eine unbekannte Anzahl im September beschlagnahmt, insgesamt also deutlich mehr als 140 Zelte. Beschlagnahmungen weiterer Gegenstände fanden im Juli und August jeweils sieben mal, im September acht mal während einer Räumung statt. Im August beschlagnahmten Sicherheitskräfte außerdem ein Mobiltelefon, mit dem ein Geflüchteter die Polizeiaktion dokumentierte.
Sowohl in Calais, als auch in Grande-Synthe registierten die Human Rights Observers, wie viele unbegleitete Minderjährige die nichtstaatlichen Hilfsorganisationen während ihrer Arbeit antrafen, wobei die Selbstauskunft über das Alter entscheidend für die Berücksichtigung in der Zählung war. Die Initiative weist darauf hin, dass nur ein Teil der Kinder und Jugendlichen in der Zahl enthalten sind und insbesondere diejenigen fehlen, die den Kontakt zu den Organisationen mieden oder sich in einem staatlichen Betreuungsangebot befinden und daher nicht on the ground anzutreffen sind. Mit diesen Einschränkungen wurden in Calais im Juni 128, im Juli 194, im August 254 und im September 173 unbegleitete Minderjährige erfasst; in Grande-Synthe waren es im Juni 6, im Juli 38, im August 33 und im September 37 Personen außerhalb staatlicher Schutz- und Aufnahmestruktren.
Nicht zuletzt gehören in diesen Kontext auch Behinderungen und Bedrohungen der Freiwilligen, die als Human Rights Observers Tag für Tag das Polizeiverhalten beobachten. In Calais kam es im Juni 16 mal zu Einschüchterungen und 68 mal zu Platzverweisen aus dem Operationsbereich der Polizei. Im Juli wurden acht Vorkommnisse dokumentiert, davon sechsmal das Abfilmen oder Fotografieren, für das die Beamten häufig private Geräte benutzen; in einem Fall signalisierte der Beamte durch die Verwendung des Vornamens einer Freiwilligen, dass er wisse, wer sie sei. Im August wurden 15 Vorkommnise dokumentiert, darunter Identitätskontrollen und Drohung mit Festnahme. Im September stieg die Zahl solcher Situationen auf 21. Zu vergleichbaren Vorfällen kam es in Grande-Synthe, allerdings nur in einigen wenigen Fällen.
Alles in allem spiegelt sich in diesen Zahlen, dass sich die Menschenrechtslage – soweit sie hier statistisch fassbar ist – in Grande-Synthe nicht, in Calais hingegen deutlich verändert hat. Insbesondere der Rückgang der alltäglichen Räumungen bei gleichzeitiger Zunahme der Enteignung von teils überlebenswichtigem Besitz fallen auf. (Update, 24.10.2020: Wie die Human Rights Observers unserem Blog mitteilen, ist der zahlenmäßige Rückgang der Räumungen allein auf die verringerte Anzahl der informellen Lebensorte in Calais zurückzuführen, was wiederum eine Folge der Räumungs- und Sekuritisierungsoperationen der vergangenen Monate ist. Die geringere Zahl der Räumungen weist insofern nicht auf eine Entschürfung, sondern eine Verschlechterung der Lage hin.)
Vermutlich spiegelt sich hier eine Neujustierung der polizeilichen Taktik nach dem Amtsantritt des neuen Innenminister Darmanin und des neuen Präfekten Le Franc, die, wie die „großen Räumungen“ während des Sommers zeigen, einen noch härteren Kurs verfolgen als ihre Vorgänger.
Dies lässt für die nun beginnende Schlechtwetterphase, eingergehend mit der sich dynamisch entwickelnden zweiten Seuchenwelle, Schlimmes erwarten.