In einem der ersten Beiträge dieses Blogs berichteten wir im April 2020 über den zahlenmäßigen Anstieg der Bootspassagen nach Großbritannien (siehe hier). Damals war seit Jahresbeginn etwa 500 Menschen die Überfahrt gelungen – ein Viertel der erfolgreichen Passagen des gesamten Vorjahres. Nun, ein Jahr später, haben in nur zwei Moanten bereits 531 Menschen den Ärmelkanal in kleinen Booten durchquert. Die Dynamik dieser innereuropäischen maritimen Migrationsroute scheint damit ungebrochen zu sein. Ein weiteres Mal kündigte die britische Regierung nun ihre Schließung an, diesmal durch eine Angleichung des Strafmaßes für Menschenschmuggel an das Strafmaß für Mord.
Am 22. Februar 2021 meldete BBC, dass die britische Grenzpolizei (Border Force) 49 Migrant_innen aus vier Booten an Bord genommen und nach Dover gebracht habe. Die französischen Behörden hätten am gleichen Tag acht Boote mit 126 Passagieren gestoppt, bevor sie britisches Hoheitsgebiet erreichten. Der für Migration zuständige Staatssekretär Chris Philp wertete dies als Beleg dafür, dass die im Vorjahr getroffenen Vereinbarung mit Frankreich zur verstärkten Überwachung des Küstenstreifens (siehe hier) griffen: „Since the start of the year, through the joint operational and intelligence deployment shared by our two countries, the French authorities have prevented more than 70 % of attempted Channel crossings.“ Zur Erinnerung: Im vergangenen Jahr war über die Hälfte der Passageversuche, vielleicht um die 70 %, gelungen.
Ob Philp’s Erfolgsmeldung tatsächlich die Realität spiegelt, ist mehr als zweifelhaft. Denn bereits am 23. Februar 2021 berichtete der BBC-Reporter Simon Jones auf seinem Twitter-Account, die Border Force hätte an diesem Tag weitere 77 Bootsmigrant_innen nach Dover gebracht, wohingegen aus Frankreich kein einziges Abfangen gemeldet worden sei. Am 26. Februar seien, so Jones weiter, 33 Migrant_innen nach Dover gebracht und 11 auf französischer Seite zurückgehalten worden. Am 27. Februar habe das Zahlenverhältnis bei 87 erfolgreichen gegenüber 51 verhinderten Passagen gelegen. Und am heutigen 2. März twitterte er: „66 people crossed the Channel in four boats today. The French prevented two crossings involving 22 migrants. These figures come from the Home Office.“
Jones gehört zu den britischen Journalist_innen, die die Entwicklung der Bootspassagen kontinuierlich verfolgen und tagesaktuell dokumentieren, doch in keinem seiner Tweets seit dem Statement Philip’s meldete er eine höhere Zahl verhinderter als gelungener Passagen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Passage glückt, dürfte im Augenblick also ähnlich hoch sein wie im vergangenen Jahr, nur dass die Gesamtzahl der gelungenen Überfahrten von 182 im Februar 2020 auf 308 im Februar 2021 gestiegen ist (so Jones hier).
Todesfälle bei einer Bootspassage sind für das laufende Jahr bislang nicht bekannt geworden; sie ereigneten sich in den Vorjahren deutlich seltenter als bei Passageversuchen im Lastkraftverkehr und geschahen häufig bei individuellen, eben nicht durch professionelle Schmuggler organisierten Überfahrten (siehe hier, hier, hier und hier). Dessen ungeachtet spielt die Vorstellung, dass die Todesfälle hauptsächlich auf See geschähen und durch Schmuggler verschuldet seien, eine zentrale Rolle in der politischen Rhetorik der britischen Regierung. Während ein angestrebtes Abkommen mit Frankreich über die Abschiebung von Bootsmigrant_innen (oder sogar Pushbacks auf See) bislang nicht zustande kam und das Innenministerium Informationen über den aktuellen Verhandlungsstand verweigert, kündigte Premierminister Boris Johnson am 1. März eine drastische Strafverschärfung für Menschenschmuggel an: „It is outrageous that the gangsters, the people smugglers, these thugs, are still putting people’s lives at risks in the way that they are, taking money to help people cross the Channel in unseaworthy vessels, risking their lives.“ Und: „What we are going to do is to absolutely, ruthlessly stiffen the sentences for anybody who is involved in this kind of people smuggling and trafficking human beings across the Channel.“ (zit. n. InfoMigrants) Vorausgegangen war die Ankündigung der britischen Innenministerin Priti Patel, das Strafmaß für Menschenschmuggel auf Lebenslänglich heraufzusetzen. Bislang liegt die Höchststrafe bei 14 Jahren, durchschnittlich werden nach Angaben der Times drei Jahre Haft verhängt.
Durch diese Erhöhung des Strafmaßes würde die Schleusung, wie auch immer sie definiert sein mag, mit Mord gleichgesetzt – was offenbar auch intendiert ist. Eine anonyme Quelle aus dem Innenministerium erläuterte der Times: „We need to be sentencing people on the basis it is practically equivalent to firing rifles into a crowded room in terms of the risk they are taking with other people’s lives.“ (zit. n. ebd.) Die strafrechtliche Verschärfung gehört dem Blatt zufolge außerdem zu einem Paket weiterer Abschreckungsmaßnahmen, die im Jahr 2022 greifen sollen. Das bislang noch unscharfe Grenzregime des Kabinetts Johnson für die Post-Brexit-Phase gewinnt damit etwas mehr Kontur. Und abermals zeigt sich, dass es gegenüber den Transitmigrant_innen aus der EU extrem repressiv angelegt sein wird.
Sollte es tatsächlich zu einer Angleichung des Straßmaßes für Menschenschmuggel an Mord kommen, so dürfte dies weniger die Chefs der in Nordfrankreich tätigen sogenannten mafias treffen, wie auch die Kontaktperson der Times im Innenministerium indirekt einräumte. Realistischer ist, dass vor allem untergeordnete Mittelsleute, Gelegenheitsschmuggler_innen sowie Geflüchtete, denen beispielsweise das Steuern eines Bootes oder ein Handykontakt zum Vorwurf gemacht und als Zugehörihgkeit zu einem kriminellen Netzwerk aufgelegt wird, unter Druck geraten (sollen).
Gleichwohl ist dies nicht die erste Ankündigung der britischen Regierung, die Kanalroute durch stärkere Sekuritisierung und schärfere Strafverfolgung schließen zu wollen. Gelungen ist dies bislang nicht. Die 531 sei Januar gelungenen Grenzpassagen verweisen vielmehr darauf, dass die neue Saison gerade erst begonnen hat.