Wie die Public and Commercial Services (PCS) Union, Care4Calais, Channel Rescue und Freedom from Torture am heutigen 25. April 2022 mitteilen, hat die britische Regierung ihr Vorhaben aufgegeben, die Boote von Geflüchteten im Ärmelkanal gewaltsam zurückzudrängen. Die vier Organisationen haben damit einen bedeutenden menschenrechtspolitischen Erfolg erzielt: Denn im Zuge ihrer gemeinsamen Klagen gegen die seit Spätsommer 2021 vorbereiteten Pushbacks war ans Licht gekommen, dass die Regierung frühzeitig darüber informiert war, dass sie diese Maßnahme aus rechtlichen Gründen nie gegen Asylbewerber_innen würde anwenden können. Dennoch hielt sie an ihrem Vorhaben fest und täuschte darüber hinaus gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit vor, im legalen Rahmen – wenn auch unter eng umrissenen Bedingungen – solche Pushbacks durchführen zu können. Eine Woche vor der Anhörung des Falls vor dem High Court teilte die Regierung nun mit, dass sie ihre bisherige Pushback-Politik aufgegeben hat.
Im September 2021 hatte die britische Innenministerin Priti Patel die UK Border Force ermächtigt, eine sogenannte turn around-Taktik – so die offizielle Umschreibung der Pushbacks – im Ärmelkanal anzuwenden (siehe hier). Kurz darauf dokumentierte Channel Rescue, wie die Grenzpolizei das Abdrängen von Schlauchbooten mit Hilfe von Jetskis trainierte (siehe hier). Analysen von Navigationsdaten ließen im Januar 2022 vermuten, dass solche riskanten Operationen nur in einer bestimmten Zone zwischen Calais und Dover durchgeführt werden sollten, dort nach Aussagen der Innenministerin allerdings jederzeit beginnen könnten (siehe hier). Völlig überraschend kündigte die britische Regierung Ende Januar an, der zivilen Border Force die Befehlsgewalt über die Bekämpfung der undokumentierten Bootspassagen im Ärmelkanal zu entziehen und sie der Royal Navy, also dem Militär, zu übertragen, was im April dann auch geschah (siehe hier und hier). Während dieser Entwicklung wurden mehrfach spektische bis ablehnende Aussagen ehemaliger oder amtierender Vertreter der Border Force publik, die auf die Rechtsunsicherheit solcher Maßnahmen und auf Gefahren für Leib und Leben der Bootspassagier_innen hinwiesen.
Das stärkste Signal jedoch war die gemeinsame Klage der PCS Union, in der ein Großteil der Beschäftigten der Border Force gewerkschaftlich organisiert ist, mit Freedom from Torture, Care4Calais und Channel Rescue, mit NGOs also, die sich explizit für die Geflüchteten auf der Kanalroute einsetzen.
Wie der Guardian am 23. April 2022 berichtete, hatte das Innenministerium im Zuge dieses Verfahrens „beim High Court Immunität im öffentlichen Interesse beantragt, um zu verhindern, dass Einzelheiten der Pushback-Politik veröffentlicht werden. Dieses Verfahren wird angewandt, wenn es um sensible Themen wie organisierte Kriminalität, Terrorismus oder nationale Sicherheit geht. Die Richter erklärten jedoch, dass die Offenlegung der Politik nicht zu einem ‚realen Risiko einer ernsthaften Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses‘ führe.“
Durch diesen Beschluss des Gerichts wurden unveröffentlichte Details der Pushback-Politik bekannt. Von zentraler Bedeutung war, so der Guardian, die regierungsinterne Einschätzung, „dass jeder, der in einem Schlauchboot anzeigt, dass er im Vereinigten Königreich Asyl beantragen möchte, nicht zurückgeschoben, sondern stattdessen an die britische Küste begleitet werden soll. Nach den eigenen Daten des Innenministeriums ist fast jeder, der auf diese Weise das Vereinigte Königreich erreicht, ein Asylbewerber.“ Bittet eine Person also im britischen Hoheitsgewässer um Asyl, sei ein Pushback demnach nicht mehr zulässig. Entsprechend werde die Zahl der tatsächlich auf See abgefangenen Boote als „extrem niedrig“ eingeschätzt und die Möglichkeit, dass bei einer Pushback-Operation am Ende kein einziges Boot als geeignet zum Zurückdrängen eingestuft werde, zählte zu den „akzeptablen Ergebnissen“.
Demnach – und das macht die Sache innenpolitisch brisant – ging die britische Regierung also schon früh davon aus, faktisch keine oder nur eine sehr geringe Zahl von Pushbacks durchführen zu können, versuchte aber gleichzeitig, diese Tatsache vor der Öffentlichkeit und vor dem Parlament zu verbergen. „Ich bin schockiert, dass diese Regierung versucht, die Tatsache zu verbergen, dass Flüchtlinge, die in britischen Gewässern Asyl beantragen, ein Recht darauf haben, zur Bearbeitung dieses Antrags nach Großbritannien gebracht zu werden,“ kommentierte die Gründerin von Care4Calais, Clare Mosley, gegenüber dem Guardian.
Der High Court hatte die Anhörung über die Klage der vier Organisationen für den 3. Mai angesetzt. Eine Woche vorher, am 24. April, teilte die Rechtsabteilung der Regierung Johnson nun mit, dass der Plan, Boote zurück nach Frankreich zu zwingen, aufgegeben worden sei und der zuständige Oberbefehlshaber des Verteidigungsministeriums keine Erlaubnis für die Anwendung der turn around-Taktik erhalten habe. Das vom Guardian am 25. April zitierte Schreiben legt nahe, dass die Pushback-Politik mit der Übertragung der zivilen Kommandogewalt auf das Militär aufgegeben worden sei, so als habe sich die Sache von selbst erledigt. Dass der eigentliche Grund die drohende juristische Niederlage war, wird allgemein angenommen. Indirekt bestätigte dies auch die Haltung des Innenministeriums. Es halte, fasst der BBC-Journalist Simon Jones zusammen, „immer noch an der Idee der Pushbacks im Ärmelkanal fest – obwohl es diese Politik vor einer gerichtlichen Anfechtung zurückgezogen hat – und sagt, dass theoretisch ähnliche Taktiken in Zukunft eingesetzt werden könnten, aber nur nach vollständiger Abwägung aller relevanten Faktoren.“
Dass dies in absehbarer Zeit geschieht, ist unwahrscheinlich, und so haben wir es also wohl tatsächlich mit einem Aus der britischen Pushback-Politik im Ärmelkanal zu tun.
„Wir sind stolz und erfreut, dass die Innenministerin die umstrittene Pushbacks-Politik nur gut eine Woche vor der Anhörung unseres Falles vor dem High Court aufgegeben hat“, erklärte Care4Calais nach dem Bekanntwerden dieses grandiosen politischen und juristischen Erfolgs. Allerdings macht die Organisation zugleich klar, dass sie nur einen Etappensieg errungen hat: „Es ist großartig […], aber jetzt müssen wir uns auf eine neue Gefahr einstellen, die durch eine weitere unpraktikable, toxische, öffentlichkeitswirksame Drohung dieser Regierung entsteht. Wir bereiten uns auf die Anfechtung des Plans vor, unschuldige Menschen nach Ruanda zu schicken – ein weiteres exorbitant teures Unterfangen, dessen Kern die Grausamkeit gegenüber unschuldigen Menschen ist.“ Die anderen Kläger_innen äußerten sich in ihren Statements, von denen wir die jeweils frühesten als Screenshots dokumentieren, ähnlich.
Der Fall ist auch von europäischer und internationaler Bedeutung: In diesem Abschnitt der EU-Außengrenze konnte eine rechtlich auf tönernen Füßen stehende Pushback-Politik durch zivilgesellschaftliche Intervention und juristische Expertise gestoppt werden, bevor sie überhaupt ein einziges Mal praktiziert wurde. Dass dies möglich war, hat auch mit der Sonderstellung des Ärmelkanals in der europäischen Grenzpolitik zu tun. Hier, im vielzitierten meistbefahrenen Seegebiet der Welt, ist bislang kein rechtsfreier maritimer Raum entstanden, wie er faktisch in Teilen des Mittelmeers besteht und es dort beispielsweise ermöglicht, Migrant_innen gewaltsam zurückzuschieben, auf Rettungsinseln auszusetzen oder, wie jüngst in Griechenland dokumentiert, auf See ins Wasser zu werfen, also zu ermorden. Zwar investiert Großbritannien massiv in die Sekuritisierung der durch den Brexit entstandenen neuen EU-Außengrenze, doch wirkt sich dies in erster Linie auf dem nordfranzösischem Festland aus: Wenn Räume extralealen staatlichen Handelns entstehen, dann nicht auf See, sondern dort. Zwischen Großbritannien und Frankreich besteht kein postkoloninales oder (post)imperiales Gefälle, wie es im Verhältnis der EU zu ihren südlichehn Nachbarstaaten der Fall ist, und beide Länder verfügen über gefestigte rechtstaatliche Strukturen, die im aktuellen Fall erfolgreich genutzt werden konnten. Hinzu kommt, dass Großbritannien weder mit Frankreich, noch mit der EU flankierende Vereinbarungen für Pushbacks zustande bringen konnte.
Entsprechend wichtig dürfte es für die Londoner Regierung sein, ihre migrationspolitische Agenda eines kategorischen Ausschlusses der Channel migrants aus dem regulären Asylverfahren und ihrer Zwansumsiedlung nach Ruanda durchzusetzen. Ob ihr dies gelingt, ist angesichts des aktuellen Falls keineswegs sicher.