Bereits 10.000 Bootspassagen seit Jahresbeginn
Die Zahl der Exilierten, die seit Jahresbeginn den Ärmelkanal in small boats überquert haben, hat am 24. Mai die Marke von 10.000 überschritten. An diesem Tag registrierten die britischen Behörden die Ankunft von fünf Booten mit 288 Passagier_innen, die Gesamtzahl stieg damit auf 10.170 Personen an. Es ist der höchste Wert, der im selben Zeitraum jemals registriert wurde. Damit wird aber auch deutlich, dass die kalte Jahreszeit sehr viel stärker als in der Vergangenheit für Überfahrten genutzt wird – immer öfter mit tödlichen Konsequenzen.
Im Jahr 2021 hatten im selben Zeitraum 3.149 Menschen die Seegrenze auf small boats passiert, im Jahr 2022 waren es 9.326 und im Jahr 2023 lag ihre Zahl bei 7.558. Auf den ersten Blick wäre ein solcher Anstieg nicht zu erwarten gewesen, denn auch über das gesamte Jahr gerechnet war die Zahl der Passagier_innen 2023 zum ersten Mal gesunken (siehe hier).
Zeichnet sich damit also ein Jahr mit besonders vielen Bootspassagen ab? Diese Frage wird erst zu beantworten sein, wenn die besonders stark frequentierten Sommer- und Herbstmonate vergangen sind. Aber schon jetzt zeichnet sich ein etwas anderes Bild ab, und zwar, wenn wir uns fragen, wie groß der Anteil der Bootspassagen zwischen dem 1. Januar und dem 24 Mai an der Gesamtzahl des jeweiligen Jahres war:
01.01. bis 24.05. | Gesamtjahr | Anteil | |
2021 | 3.149 | 28.526 | 11,4 % |
2022 | 9.326 | 45.755 | 20,4 % |
2023 | 7.558 | 29.437 | 25,7 % |
2024 | 10.170 |
Der Anteil der Passagen in den Winter- und Frühlingsmonaten nahm also von 11,4 % im Jahr 2021 auf 25,7 % im Jahr 2023 zu, wobei die Gesamtzahl der Passagen in diesen beiden Jahren sehr ähnlich war. Dies bedeutet, dass die kalte Jahreszeit tendenziell immer stärker für Passagen genutzt werden. Dies macht die Überfahrten jedoch riskanter, und die Überlebenswahrscheinlichkeit nach Havarien ist aufgrund der kalten Wassertemperaturen äußerst gering.
Die Entwicklung fügt sich in ein Gesamtbild. NGOs in Nordfrankreich berichten (auch in Hintergrundgesprächen, die wir im April führten, siehe hier), dass Boote bei höherem Wellengang und stärkerem Wind ablegen als in der Vergangenheit. Hinzu kommen Ablegemanöver an Küstenabschnitten in größerer Distanz zu Großbritannien und an Wasserwegen im Hinterland. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die Aufstockung der Polizei- und Gendarmerieeinheiten im neuralgischen Küstenabschnitt zwischen Dunkerque, Calais und Boulogne-sur-Mer auf Grundlage der britisch-französischen Vereinbarung von März 2023 (siehe hier). Im Winter und Frühjahr ließ sich zudem ein brutaleres Vorgehen gegen ablegende Boote beobachten, das bis hin zu CS-Gas-Angriffen gegen bereits im Wasser befindliche Boote reicht. Dieses Vorgehen führt zu konfliktreicheren und chaotischeren Ablegemanövern und erhöht damit die Gefahr von Verletzungs- und Todesfällen.
In den Winter- und Frühjahrsmonaten dieses Jahres sehen wir eine signifikante Zunahme von Todesfällen im Zusammenhang mit Bootspassagen, die es so in den vergangenen Jahren nie gab. Die diesjährigen Passagen begannen in der Nacht des 13./14. Januar 2024 mit dem Tod von fünf Menschen bei Wimereux (siehe hier). Eine weitere Person starb bei einer Havarie im Seegebiet vor Calais am 28. Februar (siehe hier). Am 3. März starben zwei Personen bei unterschiedlichen Ablegemanövern am kanalisierten Fluss Aa nahe Dunkerque (siehe hier und hier). Die bislang letzte Havarie ereignete sich am 23. April bei Wimereux, dabei verloren fünf Menschen das Leben (siehe hier). Hinzu kommen mehrere Vermisste, von deren Tod aufgrund der äußeren Bedingungen auszugehen ist. Möglicherweise hat auch ein Leichenfund am 4. Mai in einer Wasserstrasse bei Dunkerque mit einer Bootspassage zu tun, doch ist dies unklar (siehe hier).
Für den selben Zeitraum des Jahres 2021 sind lediglich zwei Leichenfunde am Hafen von Calais dokumentiert, bei denen es sich möglicherweise um Opfer von Havarien handelt. 2022 starb im selben Zeitraum eine einzige Person bei einer Havarie. Von den Todesfällen desselben Zeitraums 2023 ereignete sich keiner im Zusammenhang mit einer Bootspassage. Im laufenden Jahr hingegen starben mindestens 13 Personen bei mindestens fünf unterschiedlichen Vorfällen, von denen die meisten mit einem Ablegemanöver zu tun hatten. Alle übrigen Todesfälle bei Bootspassagen geschahen in den Jahren 2021 bis 2023 zu einem späteren Zeitpunkt, meist in den Herbstmonaten, wenn die Zahl der Passagen hoch war und sich die Witterungsbedingungen verschlechterten.
Ob das Jahr 2024 also ein Rekordjahr der Bootspassagen wird, muss offen bleiben. Es ist auch nicht entscheidend, denn welche Zahl auch immer am Ende des Jahres stehen wird: Die immer abschreckender gestalteten Maßnahmen der britischen Regierung haben die Boote nicht gestoppt und das Geschäftsmodell für kommerzielle Schleusungen nicht gebrochen. Was die Zahlen vielmehr belegen, ist ein Ausweichen ins Risiko.