Nachdem im Februar deutlich mehr Geflüchtete den Ärmelkanal in kleinen Booten passiert haben als in den Vorjahresmonaten (siehe hier), lag ihre Zahl im Monat März etwas niedriger: War die Überfahrt bis Ende Februar bereits 3.147 Menschen gelungen, waren es Ende März nach vorläufigen Angaben 3.790. Im Gegensatz zum März des vergangenen Jahres, als punktuell über 400 Menschen in derselben Nacht übersetzten, waren es an günstigen Tagen nun höchstens halb so viele. Der Monat war von anhaltend ungünstiger Witterung geprägt, sodass nur an sieben Tagen überhaupt Boote übersetzten. Hieraus einen Effekt der drakonischen Gesetzesinitiative der britischen Regierung gegen die Bootspassagier_innen abzuleiten, wäre vor diesem Hintergrund verfehlt. Zugleich berichten sowohl die Behörden als auch die Hilfsorganisation Utopia 56 von brennenden Booten an der nordfranzösischen Küste.
Kategorie: Calais
Um Geflüchtete aus der Innenstadt von Calais zu verdrängen, ließ die Stadtverwaltung im vergangenen Jahr rund 600 schwere Steine aufschütten und in einer bestimmten Formation anordnen. So entstand eine bizarre Steinlandschaft beiderseits der historischen Quais, eine radikale antimigrantische Zwecklandschaft im Herzen der Stadt (siehe hier und hier). Am 1. März 2023 wurde die Anlage weiter ausgebaut. Ihr Zweck besteht darin, das Aufstellen von Zelten unmöglich zu machen und zivilgesellschaftliche Versorgungsinfrastrukturen zu blockieren.
Human Rights Observers dokumentieren einen Höchstwert von über 1.700 Räumungen im Jahr 2022

Im Jahr 2022 stieg die Zahl der Räumungen informeller Lebensorte von Geflüchteten auf einen Höchstwert. Es waren über 1.700 Fälle, davon 96,5 % in Calais und die übrigen in der Umgebung von Dunkerque. Auch die Zahl der beschlagnahmten oder zerstörten Subsistenzgüter und persönlichen Sachen bleibt hoch. Die französische Grenzregion erweist sich damit einmal mehr ein Raum, in dem rechtstaatliche Normen im Vollzug einer restriktiven grenzpolitischen Agenda gebeugt werden. Dies verdeutlicht auch ein Vergleich der nordfranzösischen Grenzregion mit dem übrigen Frankreich.
Eine feindlichere Umwelt
Antimigrantische Raumpolitik in Calais

Hunderte Exilierte leben obdachlos in der Innenstadt von Calais. Um ihnen die Möglichkeit zu nehmen, Zelte aufzustellen, ließ die Stadtverwaltung im Spätsommer 2022 weite Flächen mit Steinen bedecken. Der Turnus der routinemäßigen Räumungen wurde für diesen Teil der Stadt von zweitäglich auf täglich beschleunigt, sodass auch die Zahl der Räumungen im Jahr 2022 explodierte. Mit den Steinenflächen ist nun im Zentrum der Stadt eine Architektur der Unwirtlichkeit sichtbar geworden, die bislang vor allem in den Randbezirken angewandt wird. Die Calaiser Steinparks lassen sich zugleich als Teil einer zynischen Stadterneuerung deuten, die einerseits eine radikal antimigrantische Agenda umsetzt, andererseits aber die Migration kapitalisiert und mit einer Neuerfindung Calais‘ als touristische Destination einhergeht. Vor diesem Hintergrund blicken wir zurück auf einen Trend, der im Jahr 2022 besonders sichtbar wurde.
Ein weiterer Suizid in Calais
Erneut ist ein Geflüchteter in Calais gestorben. Er wurde am 3. Januar 2023 auf einem Bahngleis im Süden der Stadt von einem Güterzug erfasst. Wie die zivilgesellschaftliche Organisation Utopia 56 mitteilt, hat der Mann sich „vor den Augen von Freiwilligen der Hilfsorganisationen und seinen Begleitern vor einen Zug geworfen.“ Auch die lokale Zeitung La Voix du Nord spricht von Suizid. Über die Identität des Opfers ist bislang lediglich bekannt, dass der Mann aus dem Sudan gekommen und etwa dreißig bis vierzig Jahre alt sein soll.
Ein erzwungener Tag ohne Räumungen
Durch eine solidarische Aktion hat es am heutigen 18. Dezember 2022 – dem Internationalen Tag der Migrant_innen – in Calais keine Räumungen und Beschlagnahmungen gegeben. Erreicht wurde dies durch die Blockade von Fahrzeugen, die routinemäßig solche Maßnahmen durchführen. Die Aktivist_innen prangerten in einer Erklärung (siehe unten) die andauernde Verletzung elementarer Menschenrechte an. Zugleich erinnerten sie an die tödliche Havarie vom 14. Dezember und die zahlreichen Todesfällen seit 2021.
Rechte Übergriffe auf Freiwillige
Der Brandanschlag auf ein Aufnahmezentrum für Channel migrants im Hafen von Dover am 30. Oktober 2022 (siehe hier) wirft die Frage nach rechtsextremer Gewalt im Kontext der französisch-britischen Grenze auf. Wir haben daher in Calais nachgefragt und erfuhren von Übergriffen gegen freiwillige Helfer_innen und gegen Versorungsinfrastrukten für Exilierte. Am 23. September 2022 gipfelte dies in Steinwürfen auf einen Transporter der Hilfsorganisation Collective Aid. Hinter den Übergriffen steht vor allem ein Anwohner, der inzwischen für den Sachschaden an dem Fahrzeug haftbar gemacht wurde. Nicht aber für den Angriff gegen Personen.
Eine Analyse der neuen britisch-franösischen Vereinbarung zur Bekämpfung der Bootspassagen
Die britische Innenministerin Suella Braverman und ihr französischer Amtskollege Gérald Darmanin unterzeichneten am 14. November 2022 in Paris eine gemeinsame Erklärung zur Bekämpfung der „illegalen Migration“. Die mit britischen Investitionen in Höhe von 72,2 Millionen Euro hinterlegte Vereinbarung umfasst eine Reihe von Maßnahmen, die sich hauptsächlich gegen die Bootspassagen im Ärmelkanal richten. Kritisch gelesen, regelt das Papier jedoch kaum mehr als den Fortbestand und die weitere Finanzierung bestehender Kooperationsformate. Es nimmt einige taktische Anpassungen vor und verstetigt eine 2021 begonnene Kooperation im sogenannten Calais-Format, womit die Einbeziehung Belgiens, der Niederlande und Deutschlands gemeint ist. Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären und menschenrechtlichen Lage der Exilierten fehlen gänzlich. Braverman und Darmanin verfestigen vielmehr ihre strukturellen Ursachen.
Calais Appel, eine Dachorganisation von acht in Calais tätigen Basisinitiativen, richtete am 4. November 2022 einen offenen Brief an den britischen Premierminister Rishi Sunak. Darin beschreiben sie die fortdauernde humanitäre und menschenrechtliche Krise in Nordfrankreich. Sie plädieren für die Schaffung sicherer Einreisewege nach Großbritannien, statt den Grenzraum so abschreckend wir möglich zuzurichten. Wir dokumentieren das Schreiben im Folgenden:
Räumungen trotz Winterfriede auch 2022/23
Wie in den vergangenen Jahren, wird die in Frankreich geltende Winterpause für Zwangsräumugen erneut missachtet. Diese gilt landesweit vom 1. November bis zum 31. März und soll verhindern, dass Menschen während der kalten Jahreszeit ihre Wohnung verlieren. Vor einem Jahr hatten Aktivist_innen in der Calaiser Kirche Saint-Pierre mehr als fünf Wochen lang einen Hungerstreik durchgeführt, um u. a. die Einhaltung dieser Regelung durchzusetzen (siehe hier). Ihr Ziel hatten sie trotz landesweiter Aufmerksamkeit nicht erreicht, und insofern verwundert es nicht, dass die Behörden ihre Räumungsroutine zu Beginn des Winters 2022/23 stillschweigend fortführen.