Der Lokalzeitung La voix du Nord zufolge hat in Calais‘ westlicher Nachbargemeinde Coquelles am 27. April 2021 eine größere Räumung stattgefunden. Sie betraf ein erst seit wenigen Wochen bestehendes Camp in der Nähe des ehemaligen Möbelhauses Conforama an der Gemeindegrenze von Calais und Coquelles. Das ursprüngliche Camp unter einem Vordach des leerstehenden Gebäudes war im März durch schwere Steine versperrt worden (siehe hier).
Schlagwort: Human Rights Observers
Am 15. April 2021 veröffentlichten die Human Rights Observers (HRO) ihren Jahresbericht Observations des violences d’État a frontière Franco-Britannique. Das 49seitige Dokument beruht auf einer systematischen und kontinuierlichen Beobachtung des Polizeiverhaltens in Calais und Grande-Synthe während des vergangenen Jahres. Bereits einige Zahlen machen von Neuem das Ausmaß der Gewalt sichtbar: 967 dokumentierte Räumungen migrantischer Lebensorte in Calais plus 91 in Grande-Synthe, zusammen 1058. Dabei wurden in Calais mindestens 2816 Zelte/Planen, 802 Schlafsäcke/Decken, 228 Taschen, 116 Fahrräder und anderer persönlicher Besitz bechlagnahmt. In Grande-Synthe waren es mindestens 2110 Zelte/Planen, 357 Schlafsäcke/Decken und 32 Taschen. In Calais wurden 349 und in Grande-Synthe 149 Personen während einer Räumung festgenommen.
In Calais und Grande-Synthe wurde im vergangenen Jahr mehr als 1.000 mal ein migrantisches Camp geräumt, und nahezu bei jeder dieser Operationen wurden Schutzgüter und persönlicher Besitz der Geflüchteten beschlagnahmt. Erwartungsgemäß setzt sich diese Politik der gezielten Prekarisierung auch in diesem Jahr fort. Allein im Januar und Februar wurden in Calais und Grande-Synthe 206 Räumungen dokumentiert, in deren Verlauf mindestens 1.318 Zelte und 587 Schlafsäcke beschlagnahmt (d.h. in vielen Fällen: zerstört) wurden. Der Umfang der Beschlagnahmungen liegt damit um das Dreifache höher als vor einem Jahr. Und es zeichnet sich ab, dass auch die in Nordfrankreich seit Anfang März virulente dritte Welle der Corona-Pandemie nicht zu einem Aussetzen dieser Operationen führen wird.
Frost
Über eine lebensbedrohliche Lage und ihren Kontext
Das übliche Winterwetter in Nordfrankreich ist nasskalt, mit Temperaturen etwas über dem Gefrierpunkt, kaltem Wind und aufgeweichten Böden. Dies macht das Leben in einem Camp schwer, zermürbend und ungesund. Frostperioden hingegen sind selten. In der vergangenen Woche aber frierte es kontinuierlich. Die Temperaturen fielen auf minus sechs bis sieben Grad, gefühlt lagen sie noch darunter. Die Behörden aktivierten humanitäre Notfallpläne für die in den Camps lebenden Menschen. Natürlich ist dies zu begrüßen. Aber dennoch zeigt sich nun drastisch, wie unzureichend solche Maßnahmen sind, und mehr noch: dass auch ihnen die Logik eingeschrieben ist, die Lebensbedingungen auch dann abschreckend zu erhalten, wenn es das Schlimmste zu verhindern gilt.
Räumungen als Enteignung
Eine Recherche in Calais
Im Januar 2021 hatten wir Gelegenheit, die Calaiser Initiative Human Rights Observers (HRO) einen Tag lang zu begleiten. Gemeinsam folgten wir dem Polizeikonvoi, der an diesem Tag insgesamt sieben Camps räumte, und danach fuhren wir zu einem Ort, an den ein Teil der dabei beschlagnahmten Gegenstände gebracht wird. Was wir beobachten, war der Normalfall: Nichts an diesem Tag war etwas anderes als Routine. Es kam, soweit wir sehen konnten, nicht zu physischer Gewalt. Und oft hatten die betroffenen Menschen ihre Sachen bereits vor der Polizei in Sicherheit gebracht – sie hatten sich sozusagen selbst geräumt. Manchmal, so erzählten die beiden Freiwilligen der HRO, würden sie Journalist_innen mitnehmen. Es komme vor, dass diese eine falsche Vorstellung von den Räumungen hätten, auf spektakuläre Bilder hofften und enttäuscht seien, wenn nichts eskaliere. Aber es ist offentlichtlich, dass gerade das Routinierte den Kern der Gewalt ausmacht. Diese Normalität wollen wir daher möglichst präzise beschreiben.
Massive Räumung im Zentrum von Calais
In der Calaiser Innenstadt hat am gestrigen 19. Januar 2021 eine der größten Räumungsoperationen der letzten Moante stattgefunden. Sie richtete sich gegen Migrant_innen, die ihre Zelte unter Brücken an den Quais in der Nähe des Rathauses aufgestellt hatten. Die Räumung war erwartet worden, nachdem am 16. Dezember 2020 eine entsprechende Verfügung das Stadt Calais ausgehängt worden war und das Verwaltungsgericht in Lille die Räumung am 24. Dezember erlaubt hatte (siehe hier). Gleichwohl bezeichnen Beobachter_innen den Umfang der Operation als außergewöhnlich.
Die Lebensorte von Exilierten in/bei Calais waren im Laufe des Jahres 2020 mindestens 973 mal von Räumungen betroffen; mindestens 85 weitere Räumungen wurden in Grande-Synthe bei Dunkerque registriert. Beide Zahlen ergeben sich aus Beobachtungen der Human Rights Observers. Bereits am 1. Januar wurden an fünf Plätze in Calais die ersten Räumungen des Jahres 2021 dokumentiert. Weitere Räumungen an sieben Plätzen folgten am 3. Januar: „Die Bewohner hatten nicht die Zeit, ihre persönlichen Sachen wegzubringen; mindestens 12 Zelte wurden beschlagnahmt sowie Decken und Kleider.“ Lakonisch kommentiert die Initiative: „Fundamentale Rechte werden an der französisch-britischen Grenze auch 2021 nicht respektiert.“
Mit dieser Bemerkung beendet die Initiative Human Rights Observers einen Großteil ihrer Berichte über die anhaltenden Räumungen in Calais und Grande-Synthe. Im Jahr 2020 schrieben sie dies zuletzt am 30. Dezember – nach über tausend Räumungen in beiden Städten im Verlauf dieses Jahres. Hier ein Überblick über einige neue Fälle.
„Kampf um Plätze“
Die Stadtverwaltung von Calais ließ am 17. Dezember 2020 einen Platz am Fort Nieulay sperren, der von lokalen Hilfsorganisationen für die Verteilung von Nahrung sowie für medizinische und juristische Hilfen genutzt wurde. Zu diesem Zweck griff die Stadt auf eine brachiale Methode zurück: Sie errichtete eine physische Sperre aus schweren, teils mehrfach übereinander gehäuften Felsbrocken. Gegenüber dem Portal InfoMigrants sprach Juliette Delaplace von Secours Catholique, der französischen Caritas, von einem regelrechten „Kampf um Plätze“ in Calais.
Erneute Räumungen in Calais
Am Morgen des 11. Dezember 2020 fanden in Calais erneut Räumungen mehrerer Camps statt. Dabei handelte es sich um solche Räumungen, die auf den Abbau des Siedlungsplatzes und die Verbringung der Bewohner_innen in Aufnahmeeinrichtungen außerhalb von Calais zielen (im Jargon der Behörden: mise à l’abri; in Abgrenzung zu den aktuell alle zwei Tage stattfindenden kleineren Operationen).