Durch die tägliche Präsenz von Human Rights Obervers (HRO) sind wir in der Lage, nicht nur das momentane Ausmaß der Räumungspolitik in Calais und Grande-Synthe zu verfolgen. Das Datenmaterial ermöglicht es auch, Entwicklungen über längere Zeiträume zu analysieren. Dabei wird einmal mehr sichtbar, mit welch hohem logistischen Aufwand die elenden Lebensverhältnisse der Exilierten hergestellt werden und welch eine zentrale Rolle der Ressourcenentzug dabei spielt. Konkret liegt die Zahl der dokumentierten Räumungen allein in Calais über 1.200. Bei diesen Aktionen wurden in Calais und Grande-Synthe rund 10.000 Zelte und Schutzplanen, über 3.000 Schlafsäcke und Decken und über 600 Rucksäcke bzw. Taschen beschlagnahmt. Dies ist das Zwei- bis Dreifache der Menge von 2020 nud ein Vielfaches von 2019 (siehe hier und hier). Doch diese Verschärfung der Lage ist nicht alles: Auch der Solidaritäts-Hungerstreik dreier Aktivist_innen im vergangenen Herbst scheint in den Datenreihen eine Spur hinterlassen haben.
Monat: Januar 2022
Rechtsextremes Gewaltspiel
Im Rahmen des französischen Präsidentschaftswahlkampfs veröffentlichte der Calaiser Chef des Rassemblement National, Marc de Fleurian, am gestrigen 3. Januar 2022 ein Video, das recht unverholen zu Gewalt gegen Exilierte aufruft. Der nur sechs Sekunden lange Film wurde bei Nacht am Hochsicherheitszaun des Fährhafens von Calais aufgenommen. Er zeigt in einiger Entfernung eine Gruppe schwarz gekleider Personen und legt nahe, dass es sich um Exilierte handelt. Im Vordergrund ist eine Hand zu sehen, die eine Pistole auf die Gruppe richtet. Die Szene ist so aufgenommen, dass die oder der Betrachtende in die Rolle desjenigen versetzt wird, der mit der Schusswaffe durch Calais geht, so als herrsche dort ein Krieg, und auf Geflüchtete zielt. Über den Entstehungskontext und die Urheberschaft des Videos wird nichts gesagt. Der kurze Text des rechtsextremen Wahlkämpfers besagt stattdessen, dass die Bürger_innen von Calais nur dadurch, dass sie Marine Le Pen zur Staatspräsidentin wählten, ein Recht auf Sicherheit wiedererlangen könnten, während das Bild eine andere Option zeigt: die Waffe. Es ist ein Film im Grenzbereich eines Rechtspopulismus, der Migration als einen einzigen Gewaltakt halluziniert, hin zu einem Rechtsterrorismus, der die Waffe gegen Migrant_innen richtet und ein solches Handeln denen offeriert, sich sich in seinen Blasen bewegen.
Im Laufe des Jahres 2021 haben insgesamt 28.431 Männer, Frauen und Kinder den Ärmelkanal in unsicheren Booten durchquert. Diese Gesamtzahl wurde am heutigen 1. Januar 2022 bekannt. Für 28.431 Menschen bedeutete dies, einer Situation existenzieller Unsicherheit ausgesetzt zu sein und mit der Möglichkeit des eigenen Todes rechnen zu müssen, statt einen angemessenen Weg nach Großbritannien nehmen zu können: die Fähre oder den Eurostar. Der Nexus von Migrationspolitik und Tod ist auf Kanalroute noch nie so sichtbar geworden wie in den vergangenen Monaten, als wiederholt Menschen auf See verschwanden, Leichen an die nordfranzösische Küste gespült wurden und am 24. November schließlich mindestens 27 Passagier_innen eines Schlauchboots ertranken. Währenddessen hat die Dynamik der Kanalroute stärker zugenommen, als es zu erwarten gewesen wäre: Die Zunahme erfolgreicher Bootspassagen gegenüber dem Vorjahr, als rund 8.500 Channel crossers britisches Hoheitsgebiet erreichten, beträgt 337 %. Auch der Stellenwert dieser Route innerhalb des europäischen und globalen Migrationsgeschehens hat sich verändert.
Januar 2022
Wir verlinken hier eine Auswahl aktueller Meldungen aus den Medien und Beiträge von Exilierten und Aktivist_innen und mit Bezug zur Situation im kontinentaleuropäisch-britischen Migrationsraum.