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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Wie eine Leistungsschau repressiver Grenzpolitik

Human Rights Observers dokumentieren einen Höchstwert von über 1.700 Räumungen im Jahr 2022

Verortung von Fällen und Opfern von Polizeigewalt in Frankreich seit 2018. (Screenshot: Violences Policières)

Im Jahr 2022 stieg die Zahl der Räumungen informeller Lebensorte von Geflüchteten auf einen Höchstwert. Es waren über 1.700 Fälle, davon 96,5 % in Calais und die übrigen in der Umgebung von Dunkerque. Auch die Zahl der beschlagnahmten oder zerstörten Subsistenzgüter und persönlichen Sachen bleibt hoch. Die französische Grenzregion erweist sich damit einmal mehr ein Raum, in dem rechtstaatliche Normen im Vollzug einer restriktiven grenzpolitischen Agenda gebeugt werden. Dies verdeutlicht auch ein Vergleich der nordfranzösischen Grenzregion mit dem übrigen Frankreich.

Grundlage der Zahlen sind die monatlichen Berichte der Human Rights Observers (HRO), die seit 2018 im nordfranzösischen Grenzgebiet präsent sind und die Räumungen systematisch dokumentieren. Möglich ist dies lediglich aus der Distanz, da die Polizei die Anwesenheit der HRO-Teams während einer Räumung nicht zulässt und den Abstand, aus dem eine Beobachtung möglich ist, tendenziell erhöht. Insbesondere die Angaben über beschlagnahmte oder zerstörte Gegenstände sowie über Festnahmen stellen daher Mindestwerte dar. Wie in den Vorjahren, ist im Laufe des Jahres mit einer detaillierten Analyse und Einordnung der erhobenen Daten zu rechnen. Die Angaben in diesem Beitrag stellen daher lediglich eine Annäherung dar.

Andauernde Gewalt: Räumungen in Calais und Dunkerque, Februar 2023. (Quelle: Human Rights Observers / Twitter)

Calais

In Calais und den kleineren Nachbargemeinden fanden die Räumungen weiterhin in einem Turnus von maximal 48 Stunden statt. In der Innenstadt, wo hunderte Geflüchtete obdachlos an den Quais in der Nähe des Rathauses lebten, wurden im Herbst tägliche Räumungen durchgeführt. Gleichzeitig ließ die Stadtverwaltung etwa 600 große Steine auf die informellen Lebensorten verteilen, um das Aufstellen von Zelten unmöglich zu machen. Solches Versperren oder Unbrauchbarmachen von Räumen ist nicht neu, wurde in diesem Umfang jedoch noch nie im Herzen der Stadt durchgeführt (siehe hier und hier).

Gleichwohl zeichnete sich bereits vor dieser Maßnahme eine Zunahme der Räumungen ab (siehe hier). Waren in Calais in den Jahren 2019 und 2020 jeweils knapp tausend Räumungen beobachtet worden, so stieg die Zahl 2021 auf 1.226 und lag 2022 bei 1.669. Betroffen waren in den letzten Monaten des Jahres jeweils 13 oder 14 Orte, an denen Geflüchtete unter diesen Bedingungen leben. HRO zufolge handelte es sich lediglich bei neun Räumungen um größere Operationen, die meist mit einer Unterbringung der Betroffenen verbunden sind, auch wenn dies oft zwangsweise erfolgt, von kurzer Dauer ist und der Transitsituation nicht gerecht wird. Vielmehr werden die Räumungen, wenn überhaupt, mit flagrance gerechtfertigt: Es wird so getan, als sei die ungenehmigte Nutzung eines Grundstücks in flagranti unterbunden worden; ist dies geschehen, kehren die Bewohner_innen mit den Sachen, die sie in Sicherheit bringen konnten, zurück und bauen ihr Camp bis zur nächsten Räumung nach ein oder zwei Tagen wieder auf. Flagrance wird zu einem permanenten Zustand, in flagranti wird zu in limbo.

HRO und andere lokale Organisationen bezeichnen die bei solchen Räumungen durchgeführten Beschlagnahmungen als Diebstähle, ohne dass die (bei vermeintlichen Ehrverletzungen oft überempfindlichen) Polizeibehörden bislang dagegen vorgingen. Greifen wir diesen Begriff auf, so wurden in Calais und Umgebung im vergangenen Jahr mindestens 3.128 Zelte und Schutzplanen gestohlen, davon in den Monaten September bis Dezember mindestens 226 Zelte voller persönlicher Sachen. Hinzu kamen mindestens 656 Schlafsäcke und Decken, 27 Matratzen, 215 Taschen und Rucksäcke, teils mit persönlichen Dingen, vier Fahrräder sowie Kleidung und Brennholz. Außerdem wurden 221 Geflüchtete festgenommen, was meist willkürlich erfolgt.

Ein Teil der Gegenstände wird verwahrt und kann von den Betroffenen unter bestimmten Bedingungen abgeholt werden. Anderes wird als Müll entsorgt. Da auch ein Zelt nach französischem Recht als Wohnung anzusehen ist und Räumungen während der kalten Jahreszeit bei drohender Obdachlosigkeit nicht zulässig sind, geschieht all dies in einer rechtlichen Grauzone: Was geschieht, ist offenkundig illegal, juristisch aber kaum zu unterbinden.

Dunkerque

Im westlichen Randbereich von Dunkerque mit den Kommunen Grande-Synthe und Loon Plage fanden im vergangenen Jahr 60 Räumungen statt, was leicht über der Zahl des Vorjahres liegt. Anders als in Calais, berufen sich die Behörden hier nicht auf flagrance. Vielmehr setzen sie gerichtliche Räumungsbeschlüsse um, die von den Grundstückseigentümern, bei denen es sich oftmals um die öffentliche Hand handelt, erwirkt wurden. Dies hat zur Folge, dass Räumungen in größeren Abständen, aber auch in massiverem Umfang stattfinden als in Calais, und dass sie Camps betreffen, in denen sich gewisse Infrastrukturen wie improvisierte Hütten, kleine Läden oder Imbisse haben bilden können. Die im Raum Dunkerque stark ausgeprägte Machtstellung von Schleusern, die 2022 mehrmals zu Gewalttaten bis hin zu Morden führte (siehe hier, hier und hier), wird durch die Räumungen nicht unterbunden. Allerdings stieg deren Zahl nach der Gewalteskalation von zwei im August auf neun im September und 14 im Oktober an, um im November auf sechs und im Dezember auf zwei zurückzugehen.

Auch im Raum Dunkerque wurden im großen Umfang Gebrauchsgüter und persönliches Eigentum zerstört. Laut HRO waren es mindestens 1.597 Zelte und Schutzplanen, 729 Schlafsäcke und Decken, neun Matratzen, 17 Taschen und Rucksäcke sowie andere Dinge. Allerdings ist dies nur ein Teil der tatsächlich gestohlenen Menge, denn hinzu kommen mindestens sieben vollgefüllte Container. Außerdem wurden fünf Trinkwassertanks entfernt und elf behelfsmäßige Unterkünfte abgebrochen. Während der Räumungen zählte HRO mindestens 165 Festnahmen.

Hinzu kommt, wie auch in Calais, der systematische Entzug von Raum. So hebt der HRO-Bericht für Dezember 2022 die Blockade des Zugangs zu einem von mehreren hundert Personen bewohnten Camp durch Betonblöcke hervor, „wodurch das Gelände für Rettungsdienste unzugänglich wurde und Menschen in ihrem freien Kommen und Gehen behindert werden. Diese Blöcke hinderten auch die NGOs daran, ihre Hilfsgüter innerhalb des Lebensortes zu verteilen“ (siehe auch hier).

Strukturelle Gewalt

Alles in allem fanden 2022 in der nordfranzösischen Grenzregion mindestens 1.729 Räumungen statt, knapp ein Drittel mehr als im Vorjahr. Dieser Anstieg entfällt hauptsächlich auf Calais, während im Raum Dunkerque nur wenig mehr Räumungen stattfanden als im Vorjahr. Insgesamt kam es im Rahmen solcher Polizeioperationen zu mindestens 386 Festnahmen; über 4.700 Zelte und Schutzplanen, über 1.300 Schlafsäcke und Decken und über 200 Taschen und Rucksäcke wurden beschlagnahmt, zuzüglich des Inhalt von sieben Containern. Dies ist ungefähr der Hälfte der 2021 dokumentierten Diebstähle am Eigentum der Geflüchteten und entspricht etwa den Zahlen von 2020 (siehe hier, hier und hier).

Die nordfranzösische Küstenregion lässt sich, indem sie als Vorfeld der britischen Grenze fungiert, als ein Raum struktureller Gewalt gegen Geflüchtete begreifen. Dies verdeutlicht u. a. das im Januar 2023 online gestellte Kartenwerk Violences Policiéres der Initiative l’Observatoire des Street-médics, das Daten mehrerer Beobachtungsstellen illegaler und irregulärer Gewalt durch Angehörige von Polizei und Gendarmerie seit November 2018 enthält. Der Datenpool umfasst 4.400 Fälle bzw. Opfer solcher Gewalt, die meist bei Demonstrationen, bei Räumungen und im Alltag ausgeübt wurde, oft gegen Obdachlose und Geflüchtete. Die daraus generierte Karte (siehe Screenshot oben) zeigt Calais als denjenigen Ort Frankreichs, an dem die meisten Vorfälle erfasst wurden, noch vor der Hauptstadt Paris und obwohl auch die massive Polizeigewalt gegen die Gelbwesten-Proteste in den Datenpool eingeflossen ist.

Rechtliche Basis von Räumungen im Gebiet von Calais und Dunkerque (oben) und im übrigen Frankreich (unten). (Grafik: Observatoire des expulsions de lieux de vie informels, Jahresbericht 2022)

Den Ausnahmecharakter des nordfranzösischen Grenzraums dokumentiert auch der Jahresbericht 2022 des Observatoire des expulsions de lieux de vie informels, einer Initiative zur Beobachtung und Dokumentation von Räumungen in Frankreich, an der u. a. die Calaiser Initiativen HRO und l’Auberge des migrants mitwirken. Der Bericht verdeutlicht, dass die Rechtfertigung von Räumungen durch flagrance landesweit kaum eine Rolle spielt, im nordfranzösischen Grenzraum aber hervorsticht. Gleichwohl erfolgten dort annähernd 88 % der Räumungen, ohne dass überhaupt eine Rechtsgrundlage bekannt wäre. Im übrigen Frankreich liegt dieser Anteil wesentlich geringer. Dafür erfolgen die meisten Räumungen auf Grundlage eines Gerichtsbeschlusses, was im nordfranzösischen Grenzraum nur bei etwa 2 % der Fall ist.

Beschlahmungen bei Räumungen. (Grafik: Observatoire des expulsions de lieux de vie informels, Jahresbericht 2022)

Ähnliche Unterschiede zeigen sich bei der Erfahrung körperlicher oder verbaler Gewalt sowie bei der Zerstörung oder Beschlagnahmung von Eigentum. Während in Calais und Dunkerque bei etwa der Hälfte der Räumungen Gewalt im Spiel war und es in fast 90 % zur Wegnahme von Eigentum kam, gingen im übrigen Frankreich lediglich etwas mehr als 13,5 % der Räumungen mit Gewalt und 23 % mit der Wegnahme von Sachen einher. In beiden Fällen scheint sich die Situation 2022 gegenüber dem Vorjahr 2021 verschärft zu haben. So stieg der Anteil von Räumungen mit physischer oder verbaler Gewalt in Calais/Dunkerque von 26 % (2021) auf 50,5 % (2022) und ging im Rest des Landes von 29 % auf 13,5 % zurück. Der Anteil von Räumungen mit Wegnahme persönlicher Sachen stieg in Calais/Dunkerque von 74 % (2021) auf fast 90 % (2022) und nahm im übrigen Frankreich von 41 % auf 23 % ab.

Der strukturelle Charakter der Gewalt zeigt sich auch in alltäglichen Praxen, die von den HRO-Teams über einen langen Zeitraum dokumentiert werden. Zum Beispiel: „Am 2. Dezember trat ein CRS-Beamter gegen ein Zelt, in dem sich eine Person befand. Am 19. Dezember rüttelte ein BAC-Beamter an einem Zelt, um den Bewohner herauszuholen, und bedrängte die Exilierten, sodass sie keine Zeit hatten, ihre Sachen zu holen. […] Am 10. Dezember hinderte die Polizei drei Personen daran, ihre Sachen zu holen, und am 12. Dezember urinierte eine Gruppe von CRS mit einem LBD [Gummigeschoss-Waffe, sog. ‚Flashball‘] in der Hand auf den beobachteten Lebensort“, fasst HRO entsprechende Beobachtungen im Monat Dezember zusammen. Ähnliche Schilderungen finden sich in allen Monatsberichten der Gruppe. Solche Verhaltensweisen, so HRO, „sind einschüchternd und sollen Angst vor Gewalt erzeugen. Sie sind Teil der staatlichen Schikanen und stellen einen Angriff auf die physische und psychische Integrität der Exilierten dar.“