Nie zuvor starben im britisch-kontinentaleuropäischen Grenzraum so viele Exilierte wie im Jahr 2024. Dokumentiert sind 89 Todesfälle, mehr als dreimal so viele wie im Vorjahr. An der nordfranzösischen Küste ist damit eine bislang beispiellose Situation entstanden und die Kanalroute erweist sich als eine der tödlichsten in Europa, abgesehen vom Mittelmeer. Keiner oder fast keiner dieser Menschen hätte in einer anderen migrationspolitischen Konstellation sterben müssen. Um auf eine Veränderung hinzuwirken, so unwahrscheinlich diese auch ist, erscheint es uns elementar, diese tödlichen Auswirkungen so umfassend wie möglich zu dokumentieren. Neben einer Analyse der Entwicklung veröffentlichen wir eine Chronologie aller dokumentierten Todesfälle dieses Jahres. Wir verstehen dies zugleich als eine Geste der Trauer und des Respekts gegenüber den Opfern dieser Grenze.
Wieviele starben in welchen Situationen?
Die gravierendste Entwicklung des abgelaufenen Jahres ist die Vervielfachung der Zahl der Toten, aber auch der tödlichen Situationen, der Leichenfunde und vermutlich auch des Dunkelfeldes. Lag die Zahl der dokumentierten Todesfälle 2022 bei 19 und 2023 bei 28 (siehe hier und hier), so sind es nun 89. Die Gesamtzahl der seit der Jahrtausendwende erfassten Fälle beträgt 485. Demnach entfallen über 18 % aller bekannt gewordenen Todesfälle der vergangenen 25 Jahre auf das Jahr 2024.
Auffallend, aber nicht überraschend, ist eine geographische Ausweitung vom Küsten- und Seegebiet um Calais auf die Region um Boulogne-sur-Mer. Zwar ereigneten sich 31 Todesfälle/Leichenfunde in der Region Calais, doch waren es in der Region Boulogne-sur-Mer 27 und im dazwischen gelegenen Seegebiet bei Kap Gris-Nez weitere 16. In der Region um Dunkerque waren es zehn Fälle. Zwei ereigneten sich in Belgien und je einer in Paris und im britischen Küstengewässer. In einigen Fällen ist die geographische Zuordnung unklar.
Am massivsten ist der Anstieg bei Todesfällen im Zusammenhang mit Bootspassagen – eine Entwicklung, die bereits im Spätsommer und Herbst 2023 einsetzte. Gegenüber 2023 starben sechsmal so viele Menschen bei Bootspassagen, gegenüber 2022 sogar fünfzehnmal so viele. Machten Todesfälle im Zusammenhang mit Bootspassagen im Jahr 2022 etwa 26 % und 2023 etwa 47 % der Fälle aus, stieg ihr Anteil 2024 auf etwa 86 %.
Dabei ereigneten sich fast so viele Todesfälle beim Ablegen eines Bootes wie bei Havarien und anderen Problemen auf hoher See. Häufiger als je zuvor war nicht Ertrinken die Todesursache, sondern Menschen wurden an Bord der überfüllten Boote bzw. in chaotischen Situationen erstickt oder erdrückt. Zwei oder drei Menschen starben beim Versuch, vom Hinterland der Küste über einen Wasserlauf zum Meer zu gelangen.
Neu ist auch die große Zahl von Leichenfunden an Stränden und im küstennahen Gewässer. 18 der insgesamt 22 Leichenfunde datieren auf den Zeitraum von Ende Oktober bis Dezember, wobei zwölf Körper im Raum Calais und fünf im Raum Boulogne-sur-Mer entdeckt wurden. Lokale Medien, NGOs und Behörden gehen davon aus, das es sich um Exilierte handelt, die bei Bootspassagen starben. Da die Identifizierung oftmals schwierig oder unmöglich ist, bleibt im Einzelfall offen, ob dies tatsächlich der Fall ist. Die Dokumentation der Todesfälle bleibt damit zwangsläufig unscharf.
Aber nicht alle Todesfälle geschahen bei Bootspassagen. So starben vier Menschen bei Unfällen im Fracht- bzw. Straßenverkehr. Ein Weiterer starb beim Versuch, auf einem Zug nach Großbritannien zu gelangen. Ein Exilierter starb möglicherweise durch Suizid, ein anderer wurde tot in seinem Zelt aufgefunden. Ein Kind starb krankheitsbedingt, ein weiteres bei der Geburt, nachdem die Mutter eine Havarie überlebt hatte. Vier Menschen wurden Opfer von Gewaltverbrechen. Zwei von ihnen waren Opfer des Amoklaufs eines Franzosen, der insgesamt fünf Menschen ermordete.
Die 2024 gestorbenen Exilierten stammten aus Afghanistan, Eritrea, Kuwait, Indien, Irak, Iran, Rumänien, Somalia, Sri Lanka, Sudan, Syrien, Türkei und wohl noch weiteren Ländern. Etwa 15 Opfer waren minderjährig, darunter drei Babys und drei Kinder im Alter von zwei, vier und sieben Jahren.
Die Ereignisse mit den meisten Todesopfern waren Havarien am 3. September mit zwölf und am 18. September mit acht Toten. Möglicherweise noch fataler war eine Havarie am 23. Oktober, bei der drei Personen tot geborgen wurden, jedoch 16 als vermisst galten. Es wird vermutet, dass ein Großteil der Leichenfunde bei Calais damit zusammenhängt.
Chronologie eines fatalen Jahres
14. Januar: Bei einem Ablegemanöver am Strand von Wimereux ertrinken fünf Exilierte: die Brüder Aysar Abd Rabbo (26 Jahre) und Obada Abd Rabbo (14), außerdem Ayham Al-Shouli (24) und Mohamed Jabawi (16). Sie waren syrische Staatsangehörige. Das fünfte Opfer, Ali Al Aaqlat (25), stammte aus dem Sudan (siehe hier).
27. Januar: Im Gewerbegebiet Transmarck bei Calais wird Uday Adam Abdel Rahman Qatar (19) aus dem Sudan in einem Lastwagen tot aufgefunden. Er war von der Ladung eingeklemmt und getötet worden (siehe hier).
4. Februar: An der Autobahn in der Nähe des Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque wird Rojgar Sadeq (35) aus dem kurdischen Teil des Irak mit einer Schussverletzung aufgefunden; er stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus (siehe hier).
8. Februar: Im Pariser Bahnhof Gare du Nord erleidet der rumänsche Staatsangehörige Radu-Ion Meterca (44) auf dem Dach eines Eurostar-Zuges nach Großbritannien einen tödlichen Stromschlag (siehe hier).
28. Februar: Im Ärmalkanal vor Wissent bei Calais wird nach einer Havarie der leblose Körper von Eren Gündogdu (22), einem Kurden aus der Türkei, geborgen (siehe hier).
2. März: In Gravelines zwischen Dunkerque und Calais ertrinkt Jumaa Al Hasan (27) aus Syrien. Er hatte versucht, zu einem Schlauchboot zu schwimmen. Dies geschah während eines Polizeieinsatzes und war möglicherweise durch diesen ausgelöst. Der Unfall ereignet sich im Canal de l’Aa, einer zur Küste führenden Wasserstraße (siehe hier).
3. März: In Watten südlich von Dunkerque ertrinkt Rola Al Mayali, ein siebenjähriges Mädchen aus dem Irak. Der Unfall ereignet sich beim Ablegen eines Bootes auf dem Canal de l’Aa (siehe hier).
1. April: In der Nähe Jungle von Loon-Plage wird Nariman Mohammad Abudlqader (26) aus dem kurdischen Teil des Irak durch Messerstiche tödlich verletzt (siehe hier).
4. April: Auf der belgischen Küstenautobahn A18 (E40) bei Oostduinkerke stirbt Bashir Aldigail Abaker Hamid (23) aus dem Sudan. Sein Körper wird von zahlreichen Fahrzeuge überrollt (siehe hier).
8. April: In Belgien verunglückt Mohamed Sally Abakar Osmanein (19) aus dem Sudan auf einer Autobahn nahe Namur. Ermittlungen ergeben, dass er in Calais in einen Lastwagen gestiegen ist, der jedoch nicht nach Großbritannien fuhr (siehe hier).
18. April: Beim Überqueren einer vielbefahrenen Straße, die durch das Gelände des Jungle von Loon-Plage führt, wird Fowsul Ameer Abdul Vajithu (24) aus Sri Lanka angefahren und tödlich verletzt. Eine von Exilierten benutzte Unterquerung der Straße ist kurz zuvor gesperrt worden (siehe hier).
23. April: Am Strand von Wimereux sterben fünf Menschen: Abdul Noor Zachariah aus dem Sudan, Rakesh Kumar (44) aus Indien, Semet Cagritekin (22) aus der Türkei, Zilan Mohamed Amin (25) aus dem Irak und die 4-jährige Sara Al Ashimi aus dem Irak. Sie ersticken in einer chaotischen Situation, als eine Gruppe versucht, auf ein Boot zu gelangen (siehe hier).
4. Mai: Im Canal de Bourbourg in Petite-Synthe nahe Dunkerque wird die Leiche eines etwa 40jährigen Mannes gefunden. Es wird vermutet, dass es sich um einen Exilierten handelt (siehe hier).
12. Juli: Bei einer Havarie im Ärmelkanal bei Kap Gris-Nez ertrinken vier Menschen: Ibrahim Huseen (46), Abdiqani Mohamoud (26), Ahmed Salaad (41), alle aus Somalia, sowie eine unbekannte Person. Ihr Boot hatte etwa eine Stunde zuvor nördlich von Boulogne-sur-Mer abgelegt. Bis auf eine Person verfügte niemand über eine Rettungsweste (siehe hier).
17. Juli: Bei einer Havarie vor der Küste von Gravelines zwischen Calais und Dunkerque ertrinkt die eritreische Staatsangehörige Dakhlac (32). Das Boot war mit 72 Personen besonders stark überladen (siehe hier).
19. Juli: Auf dem Ärmelkanal vor Calais erstickt der 15-jährige Abdulaziz aus dem Sudan an Bord eines Schlauchbootes, das in Schwierigkeiten gerät. Das Boot war mit 86 Personen besonders stark überladen (siehe hier).
28. Juli: Auf dem Ärmelkanal vor Calais erstickt Dina Al Shammari (21), eine Budinin aus Kuwait, an Bord eines besonders stark überladenen Bootes mit mehr als 70 Passagier_innen (siehe hier).
29. Juli: In Calais stirbt der 10 Monate alte Mohammed infolge gesundheitlicher Probleme (siehe hier).
2. August: In der Innenstadt von Calais ertrinkt Nassredine Hassan Ahmed (26) nach dem Sturz von einer Brücke in einen Kanal (siehe hier).
11. August: Im Ärmelkanal vor Calais ertrinken Fazal und Ihsanullaei, beide aus Afghanistan, bei einer versuchten Bootspassage nach Großbritannien (siehe hier).
3. September: Im Ärmelkanal vor Kap Gris-Nez ertrinken nach einer Havarie zwölf Menschen, zehn von ihnen sind Frauen, die Hälfte der Opfer ist minderjährig. An Bord des stark überladenen Bootes befanden sich vor allem Menschen aus Eritrea und Äthiopien. Über die Identität und Herkunft der Menschen liegen keine Angaben vor. Es ist die bis dahin zweitschlimmste Havarie seit November 2021 (siehe hier).
7. September: Im Krankenhaus von Calais stirbt das Baby einer Überlebenden der Havarie vom 3. September. Die Frau hatte sich nach der Havarie einem Kaiserschnitt unterziehen müssen.
13. September: An einem Strand bei Merlimont südlich von Boulogne-sur-Mer wird eine Leiche gefunden.
15. September: An der Küste zwischen Wimereux und Ambleteuse ertrinken acht Menschen, als das Schlauchboot nach dem Ablegen auf scharfkantige Felsen trifft. Über die Identität und Herkunft der Menschen liegen keine Angaben vor (siehe hier).
17. September: Fischer entdecken im Ärmelkanal vor Ambleteuse die Leiche von Kbaat Gebrehiwet (20) aus Eritrea. Es wird vermutet, dass sie ein weiteres Opfer der Havarie am 15. September ist (siehe hier).
5. Oktober: Beim Ablegen eines Schlauchbootes in der Region Boulogne-sur-Mer wird der zweijärige Mansur, ein Kind somalischer Eltern, im Gedränge erdrückt (siehe hier).
5. Oktober: Bei einer Havarie im Ärmelkanal vor Calais ersticken drei Menschen, und zwar zwei Männer und eine Frau, an Bord des Schlauchbootes. Sie sollen vietnamesischer und afrikanischer Herkunft sein. Das Boot ist mit etwa 80 Menschen besonders stark überladen (siehe hier).
5. Oktober: Fund einer Leiche; nähere Angaben über Ort, Umstände und Identität liegen nicht vor.
17. Oktober: Im Ärmelkanal bei Wissant westlich Calais ertrinkt Maryam, ein Baby irakisch-kurdischer Eltern, als das Boot in Schwierigkeiten gerät. Das Boot ist stark überladen (siehe hier).
23. Oktober: Im Ärmelkanal vor Calais sterben bei einer Havarie drei Menschen, und zwar zwei Männer und eine Frau. Da Überlebende von einer großen Anzahl Vermisster berichten und in den folgenden Wochen zahlreiche Leichen an nahegelegenen Küsten angespült werden, wird vermutet, dass sehr viel mehr Menschen bei dieser Havarie starben (siehe hier und hier).
27. Oktober: An der Küste von Tardinghen westlich von Calais stirbt Baldev Singh (38), als die Passagier_innen nach einem gescheiterten Abelegemanöver zurück ans Ufer schwimmen müssen (siehe hier).
30. Oktober: Bei einem Ablegemanöver zwischen Hardelot und Équihen-Plage südlich von Boulogne-sur-Mer ertrinkt ein 28-jähriger Mann aus dem Irak. Im Verlauf des Tages werden an nahe gelegenen Stränden die Leichen von drei weiteren Personen angespült, darunter zwei irakische Staatsangehörige im Alter von 21 und 23 Jahren (siehe hier).
2. November: In Sangatte bei Calais wird die Leiche eines Mannes im Alter von etwa 30 oder 40 Jahren angespült (siehe hier).
5. November: Im Ärmelkanal vor Calais werden zwei Leichen entdeckt. Eine weitere Leiche wird vor der britischen Küste gefunden, britische Medien bringen dies mit den Leichenfunden an der französischen Küste in Zusammenhang (siehe hier).
6. November: Im Ärmelkanal vor Calais werden erneut zwei Leichen entdeckt, am selben Tag wird an Strand von Calais die Leiche eines 26-jährigen Mannes aus Syrien angespült (siehe hier).
12. November: Bei Sangatte und Wissant westlich von Calais werden zwei weitere Leichen angespült (siehe hier).
14. November: In Calais wird eine weitere Leiche angespült (siehe hier).
17. November: Am Strand von Les Hemmes de Marck östlich von Calais wird die Leiche einer Frau angespült (siehe hier).
20. November: Bei Quend südlich von Boulogne-sur-Mer wird die Leiche eines Mannes angespült (siehe hier).
8. Dezember: In Escalles bei Calais wird eine weitere Leiche angespült (siehe hier).
14. Dezember: Im Jungle von Loon-Plage werden zwei iranische Kurden im Alter von 19 und 30 Jahren während der Amokfahrt eines jungen Franzosen erschossen. Dieser ermordete zuvor seinen früheren Arbeitgeber und zwei Mitarbeiter einer Security-Firma, die in der Region u.a. grenzbezogene Aufgaben für die britische Regierung wahrnimmt. Im Auto des Täters befinden sich fünf Waffen (siehe hier und hier).
21. Dezember: Im Jungle von Loon-Plage wird ein Mann tot in seinem Zelt aufgefunden (siehe hier).
21. Dezember: Bei Wimereux wird eine weitere Leiche angespült (siehe hier).
29. Dezember: Beim Ablegen eines Schlauchboots bei Sangatte nahe Calais sterben drei Personen (siehe hier).
30. Dezember: An einem Strand nahe Calais wird eine Leiche entdeckt. Es handelt sich vermutlich um ein viertes Opfer des Unglücks am Vortag.
Das Dunkelfeld
Es ist unklar, ob alle tödlichen Ereignisse bekannt wurden. Denn dies setzt voraus, dass Rettungsdienste, Polizei, Justiz, Medien oder zivilgesellschaftliche Organisationen in irgendeiner Form informiert werden und ihrerseits die Öffentlichkeit informieren, aber auch, dass ein Bezug zum Migrationsgeschehen am Ärmelkanal überhaupt erkennbar ist oder wahrscheinlich erscheint. Auch können Todesfälle, die sich in größerer Entfernung zum Ärmelkanal ereignen, leicht übersehen werden.
Vor allem Todesfälle auf See gehen mit einem erheblichen Dunkelfeld einher, dass sich im abgelaufenen Jahr noch vergrößert haben dürfte. So wurden beispielsweise nach den tödlichen Vorfällen am 28. Februar vier, 12. Juni drei, 3. September drei und 23. September 16 Menschen auf See vermisst, was nur einen Teil der Vermisstenfälle ausmacht. Hinweise auf Vermisste lösten in aller Regel Suchaktionen der Rettungskräfte aus, die angesichts der geringen Überlebenschancen im Ärmelkanal nach einigen Stunden eingestellt wurden. Eine systematische Erfassung dieser Vermisstenfälle gibt es nicht. Ob und wieviele dieser Personen später unidentifzierbar aufgefunden wurden, muss offen bleiben.
Es ist wahrscheinlich, dass eine unbekannte Zahl vermisster Personen nie gefunden wird, etwa wenn sie durch die Strömung in die Nordsee gelangen. In der Vergangenheit wurden in den Niederlanden und selbst in Norwegen die Überreste von Geflüchteten angespült, die im Ärmelkanal gestorben waren (siehe hier).
Quellen
Da mehrere Akteure seit Langem die Todesfälle in der Region dokumentieren, können wir die Entwicklungen seit 1999 gut nachvollziehen. Eine herausragende Arbeit leistet hierbei der freie Journalist Maël Galisson mit einem interaktiven Gedenkportal. Wir haben seine Daten mit denen zivilgesellschaftlicher Initiativen (Timeline Deaths at border France/Belgium/UK und Calais Migrant Solidarity), dem Missing Migrants Projekt der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und eigenen Berichten abgeglichen. Mit Hilfe von Utopia 56 konnten wir einige sonst übersehene Fälle ergänzen.