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Channel crossings & UK

Etwa 30.000 Bootspassagen seit Jahresbeginn

Tweet des BBC-Journalisten Simon Jones über das Erreichen der Vorjahreszahl an Kanalquerungen am 12. September 2022. (Quelle: Twitter/Simon Jones)

Als das britische Verteidigungsministerium am 12. September 2022 die Ankunft von 19 small boats mit 601 Exilierten im britischen Hoheitsgebiet registrierte, erreichte die Anzahl der Channel crossings in diesem Jahr 28.592 und überstieg damit den Wert des gesamten Vorjahres. Drei Tage später stieg die Zahl auf knapp 30.000 Personen. Wie bereits in den Jahren seit 2018, hat sich Anzahl der geglückten Bootspassagen ein weiteres Mal gegenüber dem Vorjahreszeitraum verdoppelt. Währenddessen hat mit Suella Braverman eine neue britische Innenministerin die Amtsgeschäfte aufgenommen, die ernsthaft eine Reduzierung der Überfahrten auf Null propagiert.

Entwicklung der Bootspassagen in den Jahren 2018 bis 2020. (Quelle: BBC)

„Unstoppable #noborders“, lautet der schlichte Kommentar von Calais Migrant Solidarity zu den aktuellen Zahlen. Die Gruppe ist seit 2008 in Calais präsent. Auf ihrem Facebook-Account finden sich täglich meteorologische und nautische Daten, die für die Überquerung des Kanals potenziell lebensrettend sein können. Einen Zugang zu ähnlichen Daten sowie zu Notrufnummern und Empfehlungen für den Notfall finden sich auf der Website Watch the Channel und sind auf Safety at Sea-Flugblättern zusammengestellt, die dort in diversen Sprachen abrufbar sind. Es ist wahrscheinlich, dass solche Initiativen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass es in diesem Jahr erst zu einem dokumentierten Todesfall auf See gekommen ist.

Die seit nunmehr vier Jahren ungebrochene Dynamik der Kanalroute zeigt sich noch in einigen weiteren Daten. Im vergangenen Jahr hatten bis Mitte September rund 14.600 Exilierte den Kanal durchquert. In diesem Jahr setzten laut BBC allein im August 8.644 Personen in 189 Booten über – etwa so viele wie im gesamten Jahr 2020 (siehe hier). Erstmals erreichten im August mehr als tausend Menschen an einem einzelnen Tag britische Hoheitsgewässer (siehe hier). Aktuell wechseln sich Tage, an denen mehrere hundert Menschen Großbritannien erreichen, mit Tagen ab, an denen niemand oder nur wenige ankommen: Nach den 601 Personen in 19 Booten am 12. September folgten 538 Personen in 11 Booten (13. September) und 617 Personen in 14 Booten (15. September), während am 16. September keine einzige Überfahrt registriert wurde. In diesen täglichen Schwankungen spiegelt sich die jeweilige Witterungslage und damit auch der Wert der genannten Initiativen zur Verbesserung des Zugangs zu solchen Daten.

Statistik des britischen Innenministeriums zur Anzahl der Passagier_innen pro Boot. (Quelle: Home Office)

Gleichwohl bleibt die Kanalroute riskant. So sank am 15. September 2022 vor der britischen Küste ein Boot mit 38 Passagier_innen, die etwa eine Stunde im Wasser trieben. Sie konnten durch eine Search and rescue-Operation ziviler, polizeilicher und militärischer Dienste gerettet werden. Auch nimmt die Zahl der Personen pro Boot einer Statistik des britischen Innenministeriums zufolge zu, sodass die Wahrscheinlichkeit von Havarien mit einer großen Zahl von Betroffenen steigt. In den vergangenen Jahren kam es vor allem in den Herbstmonaten zu zahlreichen Havarien mit teils tödlichem Ausgang (siehe u.a. hier, hier und hier). Diese riskante Phase steht nun bevor.

Mit Blick auf die Grenzpolitik der britischen Regierung dokumentieren die aktuellen Zahlen eindrucksvoll, dass selbst extrem restrikltive Maßnahmen die Dynamik der Kanalroute nicht signifikant beeinflussen. Dies gilt insbesondere für den britischen-ruandischen Migrationsdeal vom April dieses Jahres, der die Deportation von Channel migrants in das afrikanische Land ermöglichen soll, was jedoch am 14. Juni durch eine Eilentscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechts gestoppt wurde. „Die Ruanda-Politik steht vor einer Reihe rechtlicher Anfechtungen, so dass alle Flüge nach Kigali in weiter Ferne liegen würden, falls sie als legal eingestuft werden. Kurzfristig könnte das Innenministerium versuchen, die Beziehungen zu den französischen Behörden zu stärken, um zu verhindern, dass die Boote überhaupt erst aufbrechen,“ analysiert der BBC-Journalist Simon Jones die gegenwärtige Situation.

Wenn seine Einschätzung stimmt, wäre mit einem neuen britischen Anlauf zur Sekuritisierung der französischen Küstengebiete zu rechnen, wohl wissend, dass dies die Menschen nicht daran hindern dürfte, in ein small boat zu steigen. Die Null-Boote-Agenda der neuen Innenministerin Braverman wird daher vor allem die humanitäre Krise in Calais und Dunkerque weiter verstetigen und verstärken.

Update:

Das exakte Datum, an dem die von den britischen Behörden registrierten Channel crossings die Zahl von 30.000 überstiegen, ist der 21. September 2022. An diesem Tag erreichten 667 Menschen in 15 Booten Großbritannien. Insgesamt 30.549 schafften damit seit Jahresbeginn die Überfahrt.