Am 29. September wurde der am Calaiser Krankenhaus gelegene Jungle geräumt (siehe hier). Inzwischen ist deutlich geworden, dass dies die größte Polizeiaktion gegen die Calaiser Migrant_innen seit 2016 war, als der damalige Jungle geräumt und seine zuletzt etwa 8.000 Bewohner_innen in Aufnahmezentren in ganz Frankreich verteilt worden waren. Was ist inzwischen bekannt?
Schlagwort: Jungle
Räumung im neuen Jungle
Seit dem frühen Vormittag des heutigen 29. September 2020 läuft in Calais eine groß angelegte Räumung des Geländes, auf das sich nach der letzten Räumungswelle im Juli ein Teil der migrantischen Camps verlagert hatten. Es war dadruch zum wichtigsten Lebensort der (je nach Quelle) 1.000 und 1.500 Migrant_innen geworden, die sich momentan informell in Calais aufhalten.
„C’est l’honneur de la France“
Verbot nichtstaatlicher Nahrungsverteilungen für Geflüchtete in Calais
Als am 10. September 2020 die Meldungen über das brennende Lager Moria um die Welt gingen, reiste die Calaiser Bürgermeisterin Natacha Bouchart nach Paris, um mit Innenminister Gérald Darmanin über neue Maßnahmen gegen die obdachlos in ihrer Stadt lebenden Migrant_innen zu sprechen. Noch am gleichen Tag wies Darmanin den zuständigen Präfekten an, die Verteilung von Lebensmitteln durch Organisationen zu verbieten, die nicht durch den Staat mandatiert sind. Das Verbot betrifft damit den größten Teil der zivilgesellschaftlichen Strukturen in Calais und gilt zeitlich befristet für die Teile des Stadtgebiets, aus denen die Migrant_innen verdrängt werden sollen. Es wurde zu einem Zeitpunkt ausgesprochen, an dem die Infektionen mit dem Corona-Virus in Frankreich wieder stark ansteigen und u.a. das Departement Pas-de-Calais als sogenannte rote Zone (Corona-Risikogebiet) eingestuft wird. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche werden, anders als während der ersten Corona-Welle im Frühjahr, nun offensiv zur Begründung des Verbots herangezogen.
„Sind wir in Europa? Wir sind im Jungle.“
Ein heute veröffentlichtes YouTube-Video zeigt einen Polizeieinsatz in Calais aus der Perspektive der Betroffenen. Die Aufnahmen dokumentieren das aggressive Verhalten gegen eine Bewohnerin des Jungle und gegen ihre minderjährige Tochter. Auch andere Gewaltakte wie das gezielte Sprühen von CS-Gas gegen den Kopf einer Person sind zu sehen. „Sind wir wirklich in Europa? Wir sind im Jungle“, heißt es im Untertitel des Films, was sehr genau auf den Punkt bringt, dass menschenrechtliche Normen an diesem Ort suspendiert sind.
Die anhaltende Räumungswelle erzeugt eine Extremsituation, während sich eine zweite Welle der Corona-Pandemie abzeichnet
Während sich die öffentliche Gesundheitsfürsorge in den Departements Pas-de-Calais und Nord auf die zweite Welle der Corona-Seuche vorbereitet, zerstörte eine weitere Räumung den prekären Ort, an dem ein Großteil der Menschen aus dem drei Wochen zuvor zerstörten Jungle inzwischen lebte. Dieser Ort war der Dubrulle-Wald, eine etwa 200 mal 350 Meter große Waldparzelle am Rand des Industriegebiets Zone des Dunes, in der seit den ausgehenden 1990er Jahren immer wieder informelle Camps entstanden waren. Die Zerstörung des Jungle und die Räumung des Waldes (sowie eines weiteren Camps am gleichen Tag) verschärften die inhumane Situation der Migrant_innen ein weiteres Mal – und ließen viele von ihnen in das Zentrum der Stadt zurückkehren, aus dem man sie während der vergangenen Jahre systematisch verdrängt hatte.
Nach der Räumungswelle
Nach den massiven Räumungen ab dem 10. Juli (siehe hier) versuchen die betroffenen Menschen, einen Platz zu finden, an dem sie sich aufhalten und schlafen können. Ihre Situation bleibt in höchstem Maße prekär.
Rekonstruktion einer Räumungswoche
Die Räumungswelle im Kontext des symbolträchtigen Besuchs des neuen französischen Innenministers Gérald Darmanin in Calais am 12. Juli markiert eine Zäsur. Sie unterschied sich in ihrem Umfang und in ihrer Heftigkeit von vorausgegangenen Polizeiaktionen dieser Art und wiederholte im Kleinen die medienwirksam durchgeführte Räumung des bislang größten Calaiser Jungle im Oktober 2016. Daher möchten wir das Geschehen zwischen den Räumungen in der Zone Industrielle des Dunes am 10./11. Juli und des daraufhin in den Fokus gerückten Calypso-Camps am 17. Juli anhand der lokalen Berichterstattung sowie der Schilderungen zivilgesellschaftliche Initiativen rekonstruieren. Unserer Rekonstruktion liegen (noch) keine eigenen Recherchen vor Ort zu Grunde; sie ist daher als vorläufig anzusehen.
Mehr Ankünfte, anhaltende Prekarität
Einem Bericht der Lokalzeitung La Voix du Nord vom 26. Juni 2020 zufolge ist die Anzahl der im Jungle und den übrigen Camps von Calais lebenden Geflüchteten seit dem Ende des Confinement (französische Ausgangsbeschränkungen) stark gestiegen. Bezugnehmend auf die NGO Utopia 56 könne aktuell von 1.000 bis 1.200 Migrant_innen ausgegangen werden. Die Lebensbedingungen der Menschen und die hygienischen Zustände seien nach wie vor sehr schlecht. Neben dem Hauptsiedlungsplatz rund um die Rue des Huttes und Rue des Garennes im Industriegebiet Zone des Dunes, wo hauptsächlich Geflüchtete aus dem Sudan, Eritrea, Afghanistan und Iran leben, existieren kleinere Jungles in der Nähe des Stade de l’Épopée, im Gewerbegebiet Marcel-Doret sowie in der Nähe des Krankenhauses.
Zum Ineinandergreifen von Umwelt- und Grenzschutz
Als wir Calais nach dem Ende des Lockdown besuchten, fanden wir dieses Schild. Es sagt manches, und es sagt manches nicht, und indem es beides tut, erzeugt es einen spezifischen (und durch diese Selektivität: rassistischen) Blick auf die Migrant_innen, den Jungle und die Landschaft, die ihn umgibt. Das Schild zu analysieren, legt zugleich eine Facette grenzbezogener Politik frei, die auch an anderen Orten zu beobachten ist, nämlich die Indienstnahme der vermeintlich natürlichen Umwelt und der im gesellschaftlichen Diskurs positiv besetzten Umweltpolitik zur Kontrolle und Verschließung von Räumen.
Der Jungle nach dem Lockdown
Kurz vor Beginn des Lockdown recherchierten wir in Calais. Nachdem wir nun, am 6. Juni 2020, erneut dort waren, ergibt sich ein vorläufiges Bild von den Veränderungen, die der Jungle im Verlauf der (vielleicht nur ersten) Seuchenwelle erlebt hat. Diese Veränderungen aber resultieren in erster Linie nicht aus der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung. Zwar haben sich die ohnehin prekären Lebensbedingungen in den Camps während des Lockdown weiter verschlechtert und sind elementare Versorgungsstrukturen zum Teil weggebrochen. Eine viel zitierte „Neue Normalität“ aber gibt es im Jungle nicht. Vielmehr entspricht die Situation beim Abklingen der Seuche sehr genau dem vorherigen Zustand und den damals bereits erkennbaren Tendenzen.