Die in Nordfrankreich aktive NGO Utopia 56 hat über die Tageszeitung Le Monde mehrere strafrechtliche Vorermittlungen publik gemacht. Betroffen sind drei Freiwillige bzw. Bedienstete, die Vorladungen erhalten haben. Die Ermittlungen beziehen sich auf das Engagement von Utopia 56 an der französisch-britischen Grenze und gipfeln in dem Vorwurf, in Notsituationen falsche Alarme ausgelöst zu haben. Utopia 56 weist dies entschieden zurück und will durch das Öffentlichmachen der Ermittlungen für Transparenz sorgen.
Schlagwort: Polizeigewalt
[Mit einem Update] Utopia 56 berichtet über eine extreme Erfahrung mit Polizeigewalt an der nordfranzösischen Küste. Der Übergriff geschah während einer maraude, einer nächtlichen Suchfahrt nach hilfesuchenden Geflüchteten bei Dunkerque. Dabei habe ein Polizist ein Team von Utopia 56 durch Schüsse mit Platzpatronen eingeschüchtet.
Ende Mai veröffentlichten französische NGOs in der Libération die gemeinsame Erklärung A la frontière franco-britannique, la mort n’est pas une fatalité (An der britisch-französischen Grenze ist der Tod kein unabwendbares Schicksal). Damit wollen sie den Blick auf die Zunahme von Todesfällen in vergangenen Halbjahr lenken, den sie als Folge migrationspolitischer Fehlentscheidungen deuten. Zugleich unterstützten sie einen Vorstoß französischer Abgeordneter nach einer parlamentarischen Untersuchung zum Vorgehen der Ordnungskräfte und zur Lage der Menschenrechte im französisch-britischen Grenzraum. Lokale Initiativen legen währenddessen weitere Belege für ein gewaltsames Vorgehen gegen ablegende Schlauchboote vor.
Protokoll einer Recherche in Nordfrankreich
Mehrmals berichteten wir an dieser Stelle über gewaltsames Vorgehen gegen ablegende Boote an nordfranzösischen Stränden. Zudem registrierten wir, dass es bei Ablegemanövern wiederholt zu Todesfällen kam. Mitte April sprachen wir in Calais und Dunkerque mit mehreren NGOs über diese Entwicklung. Wir wollten verstehen, ob solche Fälle lediglich häufiger publik werden, oder ob sie eine Tendenz zur Wahl brutalerer Methoden anzeigen. Hier unser Protokoll.
„Wir wären fast gestorben“
Sollte jemand der Illusion angehangen haben, nur im Süden und Osten der EU griffen Grenzschützer*innen zu Maßnahmen, die Geflüchtete gefährden und gegen Menschenrechte verstoßen – die Lighthouse Reports-Publikation „Sink the boats“ räumt damit gründlich auf. Videos und Dokumente vom Ärmelkanal belasten die französische Polizei schwer.
Zwischen dem 1. Januar und dem 21. März überquerten 4.306 Exilierte den Ärmelkanal in Schlauchbooten. In den Vorjahren hatte die Zahl bei 3.836 (2022) bzw. 3.683 (2023) gelegen. Noch nie hat es in einem Winter also so viele Bootspassagen auf der Kanalroute gegeben, und dies, obschon die Zahl der Passagen im Gesamtjahr 2022 erstmals rückläufig war (siehe hier). Der Anstieg in den Wintermonaten bedeutet zugleich ein höheres Risiko, das durch die Fokussierung der Ordnungskräfte auf die Anfahrtwege und Ablegestellen der Boote nicht vermindert, sondern erhöht wird.
Festnahme zweier Menschenrechts-Aktivisten
Zwei britische Freiwillige der Human Rights Observers (HRO) wurden festgenommen, als sie am 17. November 2023 in Calais einen Polizeieinsatz dokumentierten. Die Polizei macht sich dabei den Umstand zunutze, dass britische Staatsangehörige nach dem Brexit nicht mehr automatisch Reisefreiheit in der EU genießen. Allerdings erklärt die Menschenrechtsorganisation, dass die Papiere der Betroffenen in Ordnung waren – und fürchtet einen Präzedenzfall.
Räumung des Camps Old Lidl (2)
Nach der Räumung des Camps Old Lidl am 1. Juni 2023 erklärte die Präfektur, knapp 300 Bewohner_innen hätten sich freiwillig in teils weit entfernte Aufnahmezentren bringen lassen. Die Darstellung der Behörde erweckt den Eindruck, man habe den Exilierten lediglich „Vorschläge“ gemacht, die bereitwillig angenommen worden seien. Als die NGO Human Rights Observers (HRO) widersprach, beharrte die Behörde auf der behaupteten Freiwilligkeit. Die Menschenrechtsbeobachter_innen legten nun Video- und Fotomaterial vor, das belegt: Der Transport in die Aufnahmezentren erfolgte nicht freiwillig. Vielmehr stiegen die Exilierten „unter strenger Überwachung durch die Ordnungskräfte“ und angesichts einer möglichen Festnahme durch die anwesende Grenzpolizei in die Busse.
Zuspitzungen am Strand
[Mit einem Update] Berichte französischer Medien und zivilgesellschaftlicher Organisationen deuten darauf hin, dass die Situation an den nordfranzösischen Ablegestränden der Schlauchboote im Frühjahr 2023 gewalttätiger geworden ist. Da sich das Geschehen jedoch größtenteils bei Nacht und außerhalb der Öffentlichkeit abspielt, liegen nur fragmentarische Informationen vor. So wurden mehrere Fälle bekannt, bei denen Einsatzkräfte Boote nicht mehr nur unbrauchbar machten, sondern zudem in Brand setzten (siehe hier). Ein aktueller Fall gibt weitere Einblicke in dieses für Außenstehende unsichtbare Feld der Grenzpolitik. Er ist auch ein Indiz dafür, dass die Gendarmerie den Konflikt um das Ablegen der Boote zum Anlass nimmt, ihre eigene Stärke zu demonstrieren – und die Situation damit wohl nur noch weiter zuspitzt.
Gewalt gegen ablegende Boote
Einsatzkräfte gehen an der nordfranzösischen Küste weiterhin gewaltsam gegen ablegende Boote vor. Dabei setzten sie in den vergangenen Monaten auch Boote in Brand. Offizielle Zahlen belegen zudem, dass der größte Teil der schiffbrüchigen Migrant_innen in Nordfrankreich keine angemessene Versorgung erhält.