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Calais

Ein mutmaßlicher Suizid (2)

Über den jungen Mann, dessen Leichnam am 11. Mai erhängt in einem Lastwagenanhänger im Gerbegebiet Transmarck entdeckt wurde, ist inzwischen Näheres bekannt. Bewohner_innen des Old Lidl-Camps identifizierten ihn als Hassan, 27 Jahre alt, und anders als zunächst gemeldet, kam er nicht aus Eritrea, sondern dem Sudan. „Die Politik an den Grenzen tötet. […] Welche emotionalen Auswirkungen hat das auf die Exilierten?“, hatte eine am Ort tätige zivilgesellschaftliche Gruppe nach dem mutmaßlichen Suizid geschrieben (siehe hier). Eine Reportage des französischen Blogs InfoMigrants beantwortet dies nicht – wie auch? Aber sie skizziert die Situation einiger junger Männer, die mit Hassans Tod konfrontiert sind. Am Tag, als die Reportage erschien, wurde Hassans Camp einmal mehr geräumt.

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Calais

Ein mutmaßlicher Suizid

Gedenktafel in Calais für die Opfer der Grenze. (Foto: Th. Müller)

Im Gewerbegebiet Transmarck bei Calais fanden Geflüchtete am gestrigen 11. Mai 2022 die Leiche eines jungen Mannes vermutlich aus Eritrea. Er befand sich erhängt in einem stillgelegten Lastwagenanhänger und es wird vermutet, dass er sich selbst das Leben genommen hat. Wenn dies tatsächlich so war: Was sagt dieser Tod über die Grenze?

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Calais

Abschiebung eines Aktivisten

Es ist nicht neu, dass freiwillige Helfer_innen und politische Aktivist_innen in Calais Schikanen erfahren. Gängig sind etwa Ordnungsgelder bei Verstößen gegen das Verbot, in bestimmten Gebieten der Stadt Lebensmittel und Hilfsgüter zu verteilen, Knöllchen wegen Falschparken und ausgiebiges Überprüfen von Fahrzeugpapieren. Hinzu kommen das rechtswidrige Abfotografieren von Personen und Papieren durch die Polizei, teils mit den privaten Smartphones, und andere Formen verbaler und physischer Machtdemonstration. Deutlich darüber hinaus geht die Inhaftierung des britischen Aktivisten Matthew R., der sich in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Initiativen für die Rechte der Exilierten in Calais einsetzt, zuletzt im Rahmen des Kollektivs Calais Logement Pour Toustes, das im Februar 2022 einen maroden Altbau besetzte und in einen solidarischen Lebensort für Exilierte umwandelte (siehe hier und hier). Matthew wird keine konkrete Straftat vorgeworfen, vielmehr wurde er wegen eines abgelaufenen Aufenthaltstitels inhaftiert, mit einem einjährigen Einreiseverbot nach Frankreich belegt und muss nun unter Hausarrest auf seine Abschiebung nach Großbritannien warten. Eine Erklärung, die er selbst hierzu abgab, dokumentieren wir am Ende dieses Beitrags.

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Calais Solidarität

Die Brutalität von Calais auf der Ebene von ganz Frankreich?

Die Organisation L’Auberge des Migrants hat eine Erklärung zur Stichwahl zur französischen Präsidentschaft veröffentlich. Wir dokumentieren sie in eigener Übersetzung.

Wir wenden uns aus Calais an Euch, einem toten Winkel Frankreichs, einer Enklave und einem Experimentierfeld für autoritäre Macht, das einen Vorgeschmack darauf gibt, wie das Land aussehen könnte, sollte Marine Le Pen zur Präsidentin gewählt werden. 

Foto: Père Igor, Lizenz CC BY-SA 4.0
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Calais Channel crossings & UK

Projekt Terminus

Das verschobene Projekt der „Anti-Schleuser-Kameras“ zeigt die banalen Grenzen der Sekuritisierung

Überwachungskamera in Calais, März 2022. (Foto: Th. Müller)

Wer den Ausbau der Infrastrukturen zur Bekämpfung der Bootspassagen über eine längere Zeit beobachtet, wird feststellen, dass sie nicht frei von Friktionen war. Zwar ist die Sekuritisierung der neuralgischen Küstenabschnitte um Dunkerque, Calais und Boulogne-sur-Mer nicht zu übersehen: Neue Fahrzeuge und neues Equipment der personell verstärkten Polizei- und Gendarmeriebehörden sind im Einsatz, nachts kreisen Drohnen über den Dünen und ein Frontex-Flugzeug überfliegt von Lille aus die Küstenlinie. Ein Checkpoint an der E 40, die von Deutschland über Belgien nach Dunkerque und Calais führt, soll knapp hinter der französische Grenze das Heranschaffen von Schlauchbooten verhindern. Und als sich im vergangenen Herbst ein Vigipirate-Fahrzeug bei einem pubertären Fahrmanöver auf dem Gelände des Camps Old Lidl im Morast festfuhr und mithilfe der Campbewohner_innen im Wortsinne aus dem Dreck gezogen werden musste, wurde deutlich, dass ein ursprünglich zum Antiterrorkampf geschaffenes Polizeiprogramm inzwischen Teil der Migrationskontrolle geworden ist.

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Calais

Die Briefkästen der Camps

Briefkasten des Camps Old Lidl, 1. April 2022. (Foto: Human Rights Observers)

[Updated, 11. April 2022] Um die rechtliche Stellung der Exilierten in Calais zu verbessern und insbesondere den permanenten Räumungen entgegenzuwirken, hat Human Rights Observers Anfang April zu einer auf den ersten Blick skurrilen, tatsächlich aber wohldurchdachten Maßnahme gegriffen: Im Namen der Bewohner_innen statteten sie die wichtigsten inoffiziellen Lebensorte der Migrant_innen mit Briefkästen aus.

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Calais

Illegalität einer Räumung im September 2020

Räumung des Hospital Jungle in Calais am 29. September 2020. (Foto: Human Rights Observers)

Immer wieder versuchen zivilgesellschaftliche Organisationen, auf dem Rechtsweg gegen die entwürdigenden Umgang mit außereuropäischen Geflüchteten in Calais vorzugehen – nicht immer, aber teils durchaus erfolgreich. Eine dieser Klagen richtete sich gegen den Präfekten des Departements Pas-de-Calais, Louis Le Franc, und bezog sich auf eine der größten Polizeioperationen des Jahres 2020: die Räumung des Hospital Jungle am 29. September. Wie das Berufungsgericht im nordfranzösischen Douai nun entschied, war diese Räumung illegal und stellt einen Akt der Rechtsbeugung dar. Die Betroffenen können auf Schadenersatz hoffen.

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Benelux & Deutschland Calais

Ein Geflüchteter stirbt im Bahnhof von Valenciennes

Die Häufung von Todesfällen im Zusammenhang mit dem britisch-kontinentaleuropäischen Grenzregime endet nicht. Am 25. März 2022 starb ein eritreischer Exilierter, als er auf einem Güterzugs im Bahnhof von Valenciennes einen Stromschlag auslöste; drei weitere Eritreer wurden dabei verletzt. Offenbar hatten sie versucht, sich auf dem Dach eines Zuges nach Calais bzw. Großbritannien zu verstecken. Der Stromschlag löste außerdem eine Reihe von Explosionen aus, die den Betrieb des Bahnhofs zeitweise unmöglich machten.

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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Zwei Kreise der Hölle

Siedlungen Exilierter bei Calais und Grande-Synthe

In diesem Beitrag werden wir zwei Jungles vergleichend beschreiben, einen in der Nähe von Calais und einen in der Nähe von Grande-Synthe – eine geographische Zuordnung, die ihre Lage in den kommunalen Verwaltungsgebieten nur grob beschreibt.

Grundlage dieses Vergleiches sind Beobachtungen vor Ort, die wir am 15. März am Siedlungsplatz Old Lidl und am 16. März in der Siedlung in Loon-Plage / Dunkerque gemacht haben, sowie Hintergrundgespräche mit Exilierten und verschiedenen Vertreter_innen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Außerdem eine beobachtete Räumung am 16. März in der Nähe des Calaiser Krankenhauses, ergänzt durch Ergebnisse aus früheren Recherchen, Gesprächen und Aufenthalten vor Ort.

Old Lidl zwischen Calais und Marck

Der Siedlungsplatz „Old Lidl“ – von den Behörden Turquerie genannt – befindet sich auf dem Gebiet der Gemeinde Marck, unmittelbar an der Stadtgrenze zu Calais. Er liegt zwischen einem Schienenstrang im Norden, sowie diverser LKW-Infrastruktur im Süden und Osten, welche über die Avenue Henri Ravisse an die A16 angebunden ist. Aus Marck ist das Gelände zugänglich von der Avenue Henri Ravisse, aus Calais von einer Kurve, in der die Rue de Normandie in die Rue du Beau Marais übergeht. Dieser Zugang ist durch die Behörden mit einem Erdwall und Findlingen für Kraftfahrzeuge versperrt worden, um die Ausgabe von Essen und Hilfsgütern zu blockieren.

Erdwall und Steinbarrieren am Zugang zum „Old Lidl“. (Foto U. Schlüper)
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Calais

Tod auf der A 16

Erneut ist in der Nähe von Calais ein junger Sudaner ums Leben gekommen. Wie lokale Medien berichten, wurde er am Morgen des 10. März 2022 auf der Küstenautobahn A 16 bei Nouvelle-Église, einer kleinen Gemeinde westlich von Calais, von einem Auto erfasst und tödlich verletzt. Seine Identität scheint bislang unklar zu sein. Doch gaben die Behörden inzwischen bekannt, dass es sich um einen Mann in den Zwanzigerjahren seines Lebens handelt, der erst wenige Tage zuvor allein nach Frankreich gekommen sei. Am Tag nach seinem Tod veranstalteten lokale Organisationen in Calais eine Gedenkfeier und prangerten erneut die Gewaltförmigkeit des britisch-kontinentaleuropäischen Grenzregimes an. Es handelt sich um den 349. dokumentierten Todesfall in diesem europäischen Grenzraum seit 1999. Seit Herbst vergangenen Jahres sind in/bei Calais bereits mehrere Jugendliche und junge Männer meist sudanischer Nationalität getötet worden, als sie versuchten, auf fahrende Lastwagen aufzuspringen, oder weil sie von Fahrzeugen und Zügen erfasst wurden (siehe hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier).