Jonathan Becker verbrachte den Sommer als Freiwilliger in Calais und Dunkerque. Sein Rückblick liest sich wie eine Chronik dieses Jahres mit all seinen Zuspitzungen. Ein Interview.
Kategorie: Dunkerque & Grande-Synthe
Das Ertrinken von Shiva Mohammad Panahi, Rasul Iran Nezhad, ihrer Kinder Artin, Armin und Anita sowie zweier weiterer Menschen vor Loon-Plage am 27. Oktober 2020 (siehe hier und hier) war das bislang schlimmste Unglück während einer migrantischen Bootspassagen nach Großbritannien. Mit ihrem Tod stieg die Zahl der Menschen, die durch das kontinentaleuropäisch-britische Grenzregime ihr Leben verloren haben (und von denen wir dies wissen) auf beinahe 300. In keiner anderen Grenzregion im Inneren Europas gab es nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Eisernen Vorhangs so viele Grenztote wie in der Region rund um den Ärmelkanal. Trotz der räumlichen Nähe ist diese Tatsache kaum je in das Bewußtsein der kritischen Öffentlichkeit in Deutschland gerückt. Daher hier ein Überblick.
Wie inzwischen bekannt wurde, starben bei dem Bootsunglück am 27. Oktober im Ärmelkanal vor Loon-Plage (siehe hier) mehr Personen als zunächst angenommen: nicht vier Menschen, sondern sieben. Auch über den am 18. Oktober am Strand von Sangatte tot aufgefundenen Mann (siehe hier) ist inzwischen Näheres bekannt. In Grande-Synthe, wo offenbar alle diese Menschen gelebt hatten, hat es unterdessen wieder eine gewaltsame Räumung gegeben.
Vier Tote, ein vermisstes Kleinkind, 15 Personen, die mit zum Teil schweren Unterkühlung im Krankenhaus liegen: das Bootsunglück vor Loon-Plage bei Dunkerque am Dienstag ist die bisher größte Flüchtlings-Katastrophe im Ärmelkanal. An der grundlegenden Konstellation ändert sich am Tag danach nichts: während Unterstützer- und Menschenrechtsorganisationen sichere Passagen nach Großbritannien fordern, droht die Regierung in London den Schleusern. Für MigrantInnen wird die Lage kurz vor dem Winter immer unerträglicher.
Interview mit den Human Rights Observers zur Lage der Menschenrechte in Grande-Synthe
Neben Calais ist Dunkerque der zweitwichtigste französische Hafen mit Fährverbindungen nach Großbritannien. Daher gibt es auch dort seit Langem informelle Camps, in denen früher fast ausschließlich irakische und iranische Kurd_innen, später auch Geflüchtete auf Afghanistan und anderen Ländern lebten. Die meisten Camps befinden sich in Grande-Synthe, einer benachbarten Kleinstadt. Der damalige grüne Bürgermeister Damien Carême hatte dort 2016 das Gelände La Linière für den Bau eines „humanitären Lagers“ bereitgestellt, das von vielen als positive Alternative zum Calaiser Jungle wahrgenommen wurde. Nach einem Brand, der das Lager im April 2017 fast vollständig zerstörte, wurde es geschlossen, doch siedelten sich im Winter 2019/20 einige hundert Migrant_innen in den baufälligen Ruinen von La Linière an, bis diese im Juni 2020 erneut geräumt wurden (siehe hier). Wie bereits früher, dient heute ein weitläufiges Erholungs- und Naturgebiet namens Puythouck als Lebensort der Menschen on the move. In der Öffentlichkeit wurden und werden sie viel weniger wahrgenommen als die Geflüchteten in Calais. Auch auf unserem Blog sind sie in den vergangenen Moanten weitgehend aus dem Blick geraten. Wir haben daher die Initiative Human Rights Observers, die seit drei Jahren die Entwicklung in Calais und Grande-Synthe verfolgt (siehe hier, hier und hier), um eine Einschätzung gebeten. Im Mittelpunkt des schriftlich geführten Interviews stehen die Menschenrechtslage und das Polizeiverhalten.
Die Initiativen Refugee Rights Europe und Human Rights Observers veröffentlichten jüngst eine Untersuchung der Menschenrechtslage in Calais und Grande-Synthe während der ersten Welle der Corona-Pandemie von März bis Juni 2020 (siehe hier). Ihr Bericht zeigte, dass die zuvor etablierten Routinen, physischen und psychischen Druck auf die Exilierten auszuüben, während des Lockdown nahezu unverändert fortgesetzt wurden. In erster Linie waren dies Räumungen im Zweitage-Turnus (mit anschließender Rückkehr der Betroffenen auf das geräumte Gelände), Festnahmen (oft ohne erkennbaren Grund) und die Wegnahme persönlichen Eigentums. Die monatlichen Berichte der Human Rights Observers illustrieren nun, wie sich die Menschenrechtslage danach, also zwischen den beiden Wellen der Seuche, entwickelte.
Wir haben an dieser Stelle regelmäßig über die monatlichen Berichte der Human Rights Observers (HRO) berichtet (zuletzt siehe hier)
Aktuell ist der Jahresbericht für das Jahr 2019 erschienen. Dieser wurde von den Organisationen Auberge des Migrants, Human Rights Observers und Help Refugees in Zusammenarbeit mit Refugee Women‘s Centre, Utopia 56, Refugee Info Bus, Project Play, collective aid und La Cabane Juridique verfasst. Er liefert nicht nur einen Überblick über die polizeilichen Übergriffe des Jahres 2019, sondern ordnet diese auch in die Entwicklung des britisch-französischen Grenzregimes ein. Er ist unserer Meinung nach sehr lesenswert, da er – auch ohne große Vorkenntnisse – in die Situation in Calais und Grande-Synthe bis hin zu den channel crossings (siehe z.B. hier) einführt. Ebenso erläutern die HRO ihre Entstehungsgeschichte und die Methodik ihrer Datenerhebung.
Hier eine Zusammenfassung:
Wir haben an dieser Stelle bereits häufiger die monatlichen Berichte der Calaiser Initiative Human Rights Observers behandelt (siehe hier, hier und hier). Im Gegensatz zur massiven Räumungswelle, die Calais ab dem 10. Juli erlebte (siehe hier), spiegeln sie vor allem die Alltäglichkeit polizeilicher Routinen im Grenzbereich zwischen legalem und nicht legalem Handeln.
Über 500 Mal wurden informelle Lebensorte der Migrant_innen in Nordrrankreich seit Jahresbeginn geräumt. Und stärker als in den vergangenen Monaten wurden Zelte, Schlafsäcke und anderer Besitz beschlagnahmt oder zerstört. Dies geht aus den jetzt vorgelegten Monatsberichten der lokalen Initiative Human Rights Observers für den Monat Mai hervor. Zugleich weisen die Berichte auf einen hohen Anteil unbegleiteter Minderjähriger unter den Geflüchteten in Calais hin.
Am 3. Juni 2020 wurden laut Utopia 56 und Medicins du Monde Hautes-France die aufgrund der Corona-Pandemie aufgestellten Sanitäranlagen im Camp La Linière in Grande-Synthe wieder abgebaut. Für die momentan etwa 400 bis 500 Migrant_innen seien, so die beiden Organisationen, während des Confinement lediglich sechs Duschen, vier Toiletten, sechs Wasserhähne und ein Müllcontainer aufgestellt worden. Baufällige Hallen, in denen Zelte aufgestellt werden konnten, seien nun umzäunt worden.