Die Stadtverwaltung von Calais ließ am 17. Dezember 2020 einen Platz am Fort Nieulay sperren, der von lokalen Hilfsorganisationen für die Verteilung von Nahrung sowie für medizinische und juristische Hilfen genutzt wurde. Zu diesem Zweck griff die Stadt auf eine brachiale Methode zurück: Sie errichtete eine physische Sperre aus schweren, teils mehrfach übereinander gehäuften Felsbrocken. Gegenüber dem Portal InfoMigrants sprach Juliette Delaplace von Secours Catholique, der französischen Caritas, von einem regelrechten „Kampf um Plätze“ in Calais.
Schlagwort: Camps
Erneute Räumungen in Calais
Am Morgen des 11. Dezember 2020 fanden in Calais erneut Räumungen mehrerer Camps statt. Dabei handelte es sich um solche Räumungen, die auf den Abbau des Siedlungsplatzes und die Verbringung der Bewohner_innen in Aufnahmeeinrichtungen außerhalb von Calais zielen (im Jargon der Behörden: mise à l’abri; in Abgrenzung zu den aktuell alle zwei Tage stattfindenden kleineren Operationen).
Zeigen der Gewalt
Ausgelöst durch die gewaltsame Räumung eines Protestcamps auf der symbolträchtigen Place de la République in Paris, ist die Auseinandersetzung um Polizeigewalt in das Zentrum der französischen Innenpolitik gerückt. Neben den massiven Räumungen migrantischer Camps in der Peripherie der Hauptstadt, gegen die die Besetzer_innen der Place de la République protestierten, geht es dabei auch um die Zukunft journalistischer und dokumentarischer Arbeit bei Polizeieinsätzen. Der in seiner ursprünglichen Formulierung zwecks Überarbeitung zurückgezogene Artikel 24 des Gesetz zur „Globalen Sicherheit“ sieht vor, Aufnahmen von Polizeibeamt_innen während des Einsatzes unter bestimmten (und zwar vage definierten und leicht konstruierbaren) Umständen mit erheblichen Geld- oder Haftstrafen zu sanktionieren. In welcher Form die Regelung am Ende formuliert sein wird, ist offen. Doch wird sie, sollte sie Gesetz werden, erhebliche Konsequenzen auch und gerade für Calais und Grande-Synthe haben. Denn die Strukturen und Routinen polizeilichen Handels würden durch die Verknappung oder das Verschwinden bildlichen Materials der sichtbaren Realität entzogen und gerade dadurch tendenziell weiter enthemmt werden. Das Abbilden und Zeigen der Gewalt (und notwendigerweise auch der Personen, die sie ausführen) ist aus menschenrechtspolitischer Sicht elementar. Werfen wir daher einen Blick auf die Bilder.
Erwartungsgemäß hat sich die Menschenrechtslage für die Exilierten in Calais und Grande-Synthe nicht gebessert – weder im Kontext der zweiten Welle der Corona-Pandemie, noch angesichts der innenpolitischen Auseinandersetzungen über Polizeigewalt nach der gewaltsamen Räumung eines migrantischen Protestcamps auf der Place de la République in Paris. Unter erschwerten Bedingungen hat die Initiative Human Rights Observers nun aktuelle Berichte über den Monat November vorgelegt.
Räumung bei Coquelles
Coquelles ist eine kleine Landgemeinde westlich von Calais, deren Gebiet zu weiten Teilen von den Betriebsanlagen des Kanaltunnels und den zugehörigen Verkehrsinfrastrukturen in Anspruch genommen wird. Infolge der Räumungswellen in Calais im Sommer dieses Jahres siedelte ein Teil der Migrant_innen dorthin über. Im Schatten der zahlreichen Bootspassagen über den Ärmelkanal mehren sich die Versuche, dort ein Versteck in einem Lastwagen mit dem Ziel Großbritannien zu finden. Am 13. November 2020 fand nun nahe der Gemeindegrenze Calais‘ zu Coquelle eine groß angelegte Räumung statt. Es war die erste Operation dieser Größenordnung seit dem Beginn des zweiten Confinement (siehe hier).
Als Reaktion auf die zweite Welle der Corona-Pandemie etablierte die französische Regierung im Oktober 2020 schrittweise einen neuen Lockdown. Die im Französischen als confinement bekannte Maßnahme umfasst im Kern eine Kontakt- und Ausgangssperre, die zunächst für die am stärksten betroffenen Regionen während der Nacht verhängt, am 30. Oktober dann auf das gesamte Land und die gesamte Tagesdauer ausgeweitet wurde. Die Maßnahme ähnelt dem ersten Confinement von März bis Juni 2020. Für einen Teil der in prekären Camps lebenden Menschen eröffnete die Seuche damals eine Möglichkeit, vorübergehend und freiwillig in eine feste Unterkunft wechseln zu können. Für die meisten jedoch verschärfte das Confinement die Lebensbedingungen in den Camps, auch weil elementare Versorgungsstrukturen, darunter die Verteilung warmer Mahlzeiten und der Zugang zu Trinkwasser, ganz oder teilweise wegbrachen. Gleichzeitig hielten die Räumungen und Gewaltakte durch Polizeikräfte unvermindert an oder nahmen sogar noch zu. Wir haben diese multiple Krise auf diesem Blog umfassend dokumentiert (siehe die Beiträge unter der Kategorie: Corona). In diesem und einigen folgenden Beiträgen wird es nun um die Zeit des zweiten Confimenent gehen – hier zunächst ein Überblick.
Jonathan Becker verbrachte den Sommer als Freiwilliger in Calais und Dunkerque. Sein Rückblick liest sich wie eine Chronik dieses Jahres mit all seinen Zuspitzungen. Ein Interview.
Interview mit den Human Rights Observers zur Lage der Menschenrechte in Grande-Synthe
Neben Calais ist Dunkerque der zweitwichtigste französische Hafen mit Fährverbindungen nach Großbritannien. Daher gibt es auch dort seit Langem informelle Camps, in denen früher fast ausschließlich irakische und iranische Kurd_innen, später auch Geflüchtete auf Afghanistan und anderen Ländern lebten. Die meisten Camps befinden sich in Grande-Synthe, einer benachbarten Kleinstadt. Der damalige grüne Bürgermeister Damien Carême hatte dort 2016 das Gelände La Linière für den Bau eines „humanitären Lagers“ bereitgestellt, das von vielen als positive Alternative zum Calaiser Jungle wahrgenommen wurde. Nach einem Brand, der das Lager im April 2017 fast vollständig zerstörte, wurde es geschlossen, doch siedelten sich im Winter 2019/20 einige hundert Migrant_innen in den baufälligen Ruinen von La Linière an, bis diese im Juni 2020 erneut geräumt wurden (siehe hier). Wie bereits früher, dient heute ein weitläufiges Erholungs- und Naturgebiet namens Puythouck als Lebensort der Menschen on the move. In der Öffentlichkeit wurden und werden sie viel weniger wahrgenommen als die Geflüchteten in Calais. Auch auf unserem Blog sind sie in den vergangenen Moanten weitgehend aus dem Blick geraten. Wir haben daher die Initiative Human Rights Observers, die seit drei Jahren die Entwicklung in Calais und Grande-Synthe verfolgt (siehe hier, hier und hier), um eine Einschätzung gebeten. Im Mittelpunkt des schriftlich geführten Interviews stehen die Menschenrechtslage und das Polizeiverhalten.
Wieder Räumung eines Calaiser Camps
Nach den zahlreichen Polizeioperationen der vergangenen Monate ist am 22. Oktober 2020 ein weiteres Camp mit dem Ziel geräumt worden, die Bewohner_innen dauerhaft von dem Gelände zu verbannen. Betroffen war diesmal ein Camp im Stadtteil Beau Marais, das unter dem Namen Unicorn Jungle bekannt war und an dem seit einigen Wochen rund 300 Exilierte gelebt hatten.
Die Initiativen Refugee Rights Europe und Human Rights Observers veröffentlichten jüngst eine Untersuchung der Menschenrechtslage in Calais und Grande-Synthe während der ersten Welle der Corona-Pandemie von März bis Juni 2020 (siehe hier). Ihr Bericht zeigte, dass die zuvor etablierten Routinen, physischen und psychischen Druck auf die Exilierten auszuüben, während des Lockdown nahezu unverändert fortgesetzt wurden. In erster Linie waren dies Räumungen im Zweitage-Turnus (mit anschließender Rückkehr der Betroffenen auf das geräumte Gelände), Festnahmen (oft ohne erkennbaren Grund) und die Wegnahme persönlichen Eigentums. Die monatlichen Berichte der Human Rights Observers illustrieren nun, wie sich die Menschenrechtslage danach, also zwischen den beiden Wellen der Seuche, entwickelte.