Am gestrigen 25. Februar 2021 führte die Präfektur im Stadtteil Vivral und am Krankenhauses erneut sogenannte mise à l’abri-Operationen durch. Es handelt sich um vermeintlich humanitäre Räumungen, in deren Verlauf die Bewohner_innen der betroffenen Camps nominell freiwillig, oftmals aber gegen ihren Willen, in Zentren (CAES) außerhalb von Calais gebracht werden. Während der aktuellen Räumungen wurden mehr als hundert Personen in diese Einrichtungen transportiert und mehr als 20 festgenommen.
Schlagwort: Camps
Frost
Über eine lebensbedrohliche Lage und ihren Kontext

Das übliche Winterwetter in Nordfrankreich ist nasskalt, mit Temperaturen etwas über dem Gefrierpunkt, kaltem Wind und aufgeweichten Böden. Dies macht das Leben in einem Camp schwer, zermürbend und ungesund. Frostperioden hingegen sind selten. In der vergangenen Woche aber frierte es kontinuierlich. Die Temperaturen fielen auf minus sechs bis sieben Grad, gefühlt lagen sie noch darunter. Die Behörden aktivierten humanitäre Notfallpläne für die in den Camps lebenden Menschen. Natürlich ist dies zu begrüßen. Aber dennoch zeigt sich nun drastisch, wie unzureichend solche Maßnahmen sind, und mehr noch: dass auch ihnen die Logik eingeschrieben ist, die Lebensbedingungen auch dann abschreckend zu erhalten, wenn es das Schlimmste zu verhindern gilt.
Räumungen als Enteignung
Eine Recherche in Calais

Im Januar 2021 hatten wir Gelegenheit, die Calaiser Initiative Human Rights Observers (HRO) einen Tag lang zu begleiten. Gemeinsam folgten wir dem Polizeikonvoi, der an diesem Tag insgesamt sieben Camps räumte, und danach fuhren wir zu einem Ort, an den ein Teil der dabei beschlagnahmten Gegenstände gebracht wird. Was wir beobachten, war der Normalfall: Nichts an diesem Tag war etwas anderes als Routine. Es kam, soweit wir sehen konnten, nicht zu physischer Gewalt. Und oft hatten die betroffenen Menschen ihre Sachen bereits vor der Polizei in Sicherheit gebracht – sie hatten sich sozusagen selbst geräumt. Manchmal, so erzählten die beiden Freiwilligen der HRO, würden sie Journalist_innen mitnehmen. Es komme vor, dass diese eine falsche Vorstellung von den Räumungen hätten, auf spektakuläre Bilder hofften und enttäuscht seien, wenn nichts eskaliere. Aber es ist offentlichtlich, dass gerade das Routinierte den Kern der Gewalt ausmacht. Diese Normalität wollen wir daher möglichst präzise beschreiben.
Massive Räumung im Zentrum von Calais

In der Calaiser Innenstadt hat am gestrigen 19. Januar 2021 eine der größten Räumungsoperationen der letzten Moante stattgefunden. Sie richtete sich gegen Migrant_innen, die ihre Zelte unter Brücken an den Quais in der Nähe des Rathauses aufgestellt hatten. Die Räumung war erwartet worden, nachdem am 16. Dezember 2020 eine entsprechende Verfügung das Stadt Calais ausgehängt worden war und das Verwaltungsgericht in Lille die Räumung am 24. Dezember erlaubt hatte (siehe hier). Gleichwohl bezeichnen Beobachter_innen den Umfang der Operation als außergewöhnlich.

Die Lebensorte von Exilierten in/bei Calais waren im Laufe des Jahres 2020 mindestens 973 mal von Räumungen betroffen; mindestens 85 weitere Räumungen wurden in Grande-Synthe bei Dunkerque registriert. Beide Zahlen ergeben sich aus Beobachtungen der Human Rights Observers. Bereits am 1. Januar wurden an fünf Plätze in Calais die ersten Räumungen des Jahres 2021 dokumentiert. Weitere Räumungen an sieben Plätzen folgten am 3. Januar: „Die Bewohner hatten nicht die Zeit, ihre persönlichen Sachen wegzubringen; mindestens 12 Zelte wurden beschlagnahmt sowie Decken und Kleider.“ Lakonisch kommentiert die Initiative: „Fundamentale Rechte werden an der französisch-britischen Grenze auch 2021 nicht respektiert.“

Mit dieser Bemerkung beendet die Initiative Human Rights Observers einen Großteil ihrer Berichte über die anhaltenden Räumungen in Calais und Grande-Synthe. Im Jahr 2020 schrieben sie dies zuletzt am 30. Dezember – nach über tausend Räumungen in beiden Städten im Verlauf dieses Jahres. Hier ein Überblick über einige neue Fälle.
„Kampf um Plätze“ (2)
Unter diesem Titel, der einem Statement der lokalen Geflüchtetenhilfe entnommen ist, berichteten wir vor einigen Tagen über den zunehmenden Druck auf Exilierten im Bereich des Fort Nieulay im Westen von Calais (siehe hier). Nach einer größeren Räumungsoperation am 13. November waren dort zunächst Gehölze gerodet worden, in deren Schutz die Exilierten ihre Zelte errichten konnten (siene hier). Am 17. Dezember ließ die Stadtverwaltung sodann einen Platz, an dem verschiedene unabhängige Organisationen Essen ausgaben und andere Hilfen anboten, durch eine Barriere aus schweren Steinen unbefahrbar machen (siehe hier). Seit dem 21. Dezember 2020 ist nun eine weitere Maßnahme hinzugekommen, in deren Zentrum die staatlich mandatierte Hilfsorganisation La vie active steht: Auf Bitte der Präfektur stellte die Organisation die Verteilung von Wasser und Mahlzeiten in diesem Gebiet ein.

Infolge der diversen Räumungen des vergangenen halben Jahres leben zahlreiche Geflüchtete unter den Brücken an den historischen Quais in der Innenstadt von Calais. Bereits in früheren Jahren hatten sich dort kleine Camps gebildet, und zur Politik der konservativen Bürgermeisterin gehörte es stets, sie aus dem Zentrum des urbanen Raums in die Randzonen der Stadt zu verdrängen. Am gestrigen 24. Dezember 2020 hat das Verwaltungsgericht Lille nun Räumungen unter den Brücken genehmigt.
„Kampf um Plätze“
Die Stadtverwaltung von Calais ließ am 17. Dezember 2020 einen Platz am Fort Nieulay sperren, der von lokalen Hilfsorganisationen für die Verteilung von Nahrung sowie für medizinische und juristische Hilfen genutzt wurde. Zu diesem Zweck griff die Stadt auf eine brachiale Methode zurück: Sie errichtete eine physische Sperre aus schweren, teils mehrfach übereinander gehäuften Felsbrocken. Gegenüber dem Portal InfoMigrants sprach Juliette Delaplace von Secours Catholique, der französischen Caritas, von einem regelrechten „Kampf um Plätze“ in Calais.

Erneute Räumungen in Calais

Am Morgen des 11. Dezember 2020 fanden in Calais erneut Räumungen mehrerer Camps statt. Dabei handelte es sich um solche Räumungen, die auf den Abbau des Siedlungsplatzes und die Verbringung der Bewohner_innen in Aufnahmeeinrichtungen außerhalb von Calais zielen (im Jargon der Behörden: mise à l’abri; in Abgrenzung zu den aktuell alle zwei Tage stattfindenden kleineren Operationen).