[Updated, 11. April 2022] Um die rechtliche Stellung der Exilierten in Calais zu verbessern und insbesondere den permanenten Räumungen entgegenzuwirken, hat Human Rights Observers Anfang April zu einer auf den ersten Blick skurrilen, tatsächlich aber wohldurchdachten Maßnahme gegriffen: Im Namen der Bewohner_innen statteten sie die wichtigsten inoffiziellen Lebensorte der Migrant_innen mit Briefkästen aus.
Schlagwort: Human Rights Observers
Zweiunddreißig Tage lang protestierten abwechselnd rund 50 Menschen vor dem Rathaus von Calais, um die Forderungen sichtbar zu machen, die bereits während des Hungerstreiks in der Kirche Saint-Pierre im Oktober und November 2021 aufgestellt worden waren (siehe hier). Im Kern ging und geht es um ein Ende der permanenten Räumungen zumindest während des Winters, um ein Ende der massiven Beschlagnahmungen und um repressionsfreie Arbeitsbedingungen für die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die einen Großteil der elementaren Versorgung der Camps leisten. Der Protest vor dem Rathaus stand in der Nachfolge des Hungerstreiks und wird, wie das Kollektiv Faim aux frontières mitteilte, nicht die letzte politische Intervention bleiben. Allerdings hat der Protest nicht zu einer Revision der Zermürbungstaktik gegenüber den Exilierten geführt. Die dokumentarische Arbeit der Human Rights Observers (HRO) in diesem Winter zeigt, dass elementare Recht auf ein menschenwürdiges Leben, insbesondere auf Wohnung und Eigentum, weiterhin massiv und systematisch verletzt werden.
Durch die tägliche Präsenz von Human Rights Obervers (HRO) sind wir in der Lage, nicht nur das momentane Ausmaß der Räumungspolitik in Calais und Grande-Synthe zu verfolgen. Das Datenmaterial ermöglicht es auch, Entwicklungen über längere Zeiträume zu analysieren. Dabei wird einmal mehr sichtbar, mit welch hohem logistischen Aufwand die elenden Lebensverhältnisse der Exilierten hergestellt werden und welch eine zentrale Rolle der Ressourcenentzug dabei spielt. Konkret liegt die Zahl der dokumentierten Räumungen allein in Calais über 1.200. Bei diesen Aktionen wurden in Calais und Grande-Synthe rund 10.000 Zelte und Schutzplanen, über 3.000 Schlafsäcke und Decken und über 600 Rucksäcke bzw. Taschen beschlagnahmt. Dies ist das Zwei- bis Dreifache der Menge von 2020 nud ein Vielfaches von 2019 (siehe hier und hier). Doch diese Verschärfung der Lage ist nicht alles: Auch der Solidaritäts-Hungerstreik dreier Aktivist_innen im vergangenen Herbst scheint in den Datenreihen eine Spur hinterlassen haben.
CS-Gas nach Gegenwehr
[Update, 3. Januar 2022] Bei einer Räumung in der Calaiser Nachbargemeinde Marck kam es am gestrigen 30. Dezember 2021 zu einer Auseinandersetzung zwischen der Polizeieinheit CRS und Bewohner_innen eines Camps. Auslöser war die Beschlagnahme von Zelten und insbesondere der Umstand, dass die Besitzer_innen nicht mehr ihre persönlichen Sachen aus den Zelten holen konnten. Die Gegenwehr mündete einer in größeren Auseinandersetzung zwischen Exilierten und CRS, die sich auf ein benachbartes Wohngebiet ausweitete und in deren Verlauf die Polizei massiv CS-Gas einsetzte.
Blockierte Räumung
Erstmals ist am heutigen 4. November in Calais die routinemäßige Räumungen eines Camps von lokalen Aktivist_innen und Exilierten durch eine gewaltfreie Blockade verhindert worden. Die Aktion am 25. Tag des Hungerstreiks reiht in einen Zyklus von Protesten ein, der binnen weniger Wochen eine in den vergangenen Jahren nicht gekannte Dynamik entfaltet hat.
[Updated, 26.9.2021] In Grande-Synthe bei Dunkerque wurde am gestrigen 23. September 2021 ein Camp geräumt, in dem fast 800 Personen lebten. Während die Zelte und Hütten vollständig zerstört wurden, stellten die Behörden nur für einen kleinen Teil der Betroffenen Unterkünfte an anderen Orten bereit, sodass die überwiegende Zahl der Geräumten nun ohne den prekären Schutz der Behelfssiedlung dasteht.
Räumungen und Ressourcen: Einige Zahlen
Nach wie vor stellen Räumungen das wichtigste Instrument der Behörden zur Zermürbung der Exilierten und zu ihrer Unsichtmarmachung im öffentlichen Raum dar. Zugleich entziehen sie ihnen in großem Umfang materielle Ressourcen und binden damit indirekt auch die Kräfte der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Dabei ist die Zahl der Exilierten, wie in jedem Sommer, gestiegen. Die dokumentarische Arbeit der Human Rights Observers erlaubt es, die Praxis des Ressourcenentzugs ungefähr zu quantifizieren.
Abermalige Räumung des Magnésia-Geländes
Serie massiver Räumungen: Calais
Die Räumung des Unicorn und andere Narrative der Gewalt
Parallel zur Räumungsserie in Grande-Synthe (siehe hier) wurde in Calais das Camp Unicorn im Stadtteil Virval geräumt, das sich zuletzt zum Lebensort für rund 600 Menschen entwickelt hatte. Die Räumung fand in einer Phase statt, in der eine in ihrem Ausmaß bislang beispiellose Beschlagnahme von Zelten die Lebensbedingungen weiter verschlechtert hat. Zeitlich überschnitt sie sich außerdem mit zwei Ereignissen, bei denen es zu Gewalt zwischen Exilierten sowie mit der Polizei kam. In der öffentlichen Wahrnehmung verschmolzen diese Situationen zu einer Gewalterzählung, die die Räumung – fälschlicherweise – als Reaktion auf Gewalt erscheinen ließ. Anders als die meisten anderen Räumungen stieß sie dadurch auch auf überregionale mediale und politische Aufmerksamkeit. Es gilt also, den Ereigniskomplex zu entwirren.
Alles rechtens, nichts mit rechten Dingen…
Räumungen und Enteignungen verschärft
Regelmäßige Räumungen der Siedlungsplätze der Exilierten in Calais sind integraler Bestandteil der staatlichen Abschreckungspolitik. Sie lassen sich zum einen der Strategie zuordnen, die Verfestigung von Siedlungsplätzen – sogenannte points de fixation – zu unterbinden. Zum anderen stellen sie – wie hier bereits dargestellt – Enteignungen dar.