Viel war während der vergangenen Jahre darüber spekuliert worden, wie sich der Brexit auf das Migrationsgeschehen auswirken werde. Drei Fragen standen und stehen dabei im Mittelpunkt: Wie wird sich die neue Situation auf das Grenzregime und die Migrationspfade auswirken? Wie wird Großbritannien nach dem Austritt aus dem Dublin-System mit denen umgehen, die in Fahrzeugen oder Booten auf die Insel gelangen? Und drittens: Was wird das angeblich radikal erneuerte Asylsystem beinhalten, das die Regierung Johnson im vergangenen Jahr – begleitet von einer beispiellosen Hysterie aufgrund der Bootsmigrant_innen – für die Post-Brexit-Phase ankündigte? All dies wird uns in künftigen Beiträgen noch beschäftigen. In Calais selbst wird nun eine indirekte Auswirkung des Brexit sichtbar: Die Legitimation weiterer Metallgitterzäune am heute schon festungsartig gesicherten Kanaltunnel.
Schlagwort: Sekuritisierung
Interview mit Maël Galisson über die Toten der französisch-britischen Grenze (Teil 2)
English version below
Im zweiten Teil des Interviews schildert Maël Galisson einige der insgesamt 297 erfassten Todesfälle im französisch-britischen Grenzraum. Er analysiert die historische und geographische Entwicklung und geht insbesondere den Todesursachen nach: Es sind, so Galisson, vor allem strukturelle Ursachen – untrennbar verbunden mit der Grenz- und Migrationspolitk beider Länder.
Über die Todesfälle im Kontext des kontinentaleuropäisch-britischen Grenzregimes haben wir wiederholt berichtet, auch eine empirische Analyse der verfügbaren Daten haben wir vorgelegt (siehe hier). Maßgeblich für diese und jede weitere Beschäftigung mit diesem Thema ist die langjährige Arbeit von Maël Galisson von der französischen Rechtshilfe-Initiative GISTI. Unter dem Titel Deadly Crossings and the militarisation of Britain’s borders haben das Londoner Institute of Race Relations und das Permanent Peoples‘ Tribunal nun eine Dokumentation Galissons veröffentlicht: ein „Inventar der Todesfälle“, wie er selbst es nennt, für den Zeitraum von 1999 bis 2020.
von Thom Tyerman und Travis Van Isacker
Vorbemerkung: Der folgende Essay behandelt das kontinentaleuropäisch-britische Grenzergime vor dem Hintergrund der zahlreichen Bootspassagen im Sommer 2020. Er wurde am 9. Oktober unter dem Titel Border Securitisation in the Channel auf dem Blog Border Criminlogies veröffentlicht. Der Blog stützt sich auf ein transnationales Netzwerk zur Grenzregimeforschung und ist am Centre for Criminology der Universität Oxford angesiedelt. Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit politischen Aktivist_innen, die zum britischen Grenzregime in Nordfrankreich arbeiten, darunter: Watch the Channel, Calais Migrant Solidarity und Calais Research. Die Autoren forschen über die Sekuritisierung der britischen Grenzen und haben u.a. über Räumungen migrantischer Lebensorte in Calais publiziert. Im Mittelpunkt des folgenden Textes steht die Fragen, inwiefern die zunehmende Grenzsicherung die Risiken der Kanalquerung verstärkt und ob die Forderung nach legalen und sicheren Routen tatsächlich einen Ausweg aus dieser Situation eröffnet.
Der Jungle nach dem Lockdown
Kurz vor Beginn des Lockdown recherchierten wir in Calais. Nachdem wir nun, am 6. Juni 2020, erneut dort waren, ergibt sich ein vorläufiges Bild von den Veränderungen, die der Jungle im Verlauf der (vielleicht nur ersten) Seuchenwelle erlebt hat. Diese Veränderungen aber resultieren in erster Linie nicht aus der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung. Zwar haben sich die ohnehin prekären Lebensbedingungen in den Camps während des Lockdown weiter verschlechtert und sind elementare Versorgungsstrukturen zum Teil weggebrochen. Eine viel zitierte „Neue Normalität“ aber gibt es im Jungle nicht. Vielmehr entspricht die Situation beim Abklingen der Seuche sehr genau dem vorherigen Zustand und den damals bereits erkennbaren Tendenzen.
Zu Konjunktur und Hysterie der Kanal-Überfahrten
Sechs Boote und ein Kajak – mit diesen Gefährten überquerten insgesamt 80 Migranten am letzten Dienstag im Mai die Meerenge von Calais: 15 Frauen und 65 Männer, so bestätigte das Londoner Home Office, aus den Herkunftsländern Libyen, Marokko, Irak, Syrien, Kuwait, Iran, Afghanistan, Eritrea und Sudan. Britische Border Force – Schiffe brachten die Passagiere nach Dover, wo sie medizinisch versorgt wurden, hieß es weiter. Die Immigrationsbehörde werde einen Teil von ihnen zunächst festhalten, während andere zurück nach Frankreich gebracht werden sollten.
Vor der Epidemie – Calais im Februar 2020
7.-8. Februar 2020 [Recherche], 22. März 2020 [Artikel]
Wir besuchten Calais zuletzt am 7./8. Februar 2020 und haben daher ein eigenes Bild von der Situation einige Wochen bevor Corona zum alles beherrschenden Thema wurde. Zum Zeit unseres Besuchs hingegen sprach noch niemand davon.
Vorgeschichte – Teil 1: Calais
2016-2020 [Recherche], 21.3.2020 [Text]
Die Vorgeschichte beginnt in den 1990er Jahren. Sie zu erzählen würde den Rahmen dieses Blogs sprengen. Und es ist auch nicht nötig, denn sie ist gut dokumentiert (grundlegend durch Michel Agier, siehe auch unseren Bericht bei bordermonitoring.eu).