Als das britische Verteidigungsministerium am 12. September 2022 die Ankunft von 19 small boats mit 601 Exilierten im britischen Hoheitsgebiet registrierte, erreichte die Anzahl der Channel crossings in diesem Jahr 28.592 und überstieg damit den Wert des gesamten Vorjahres. Drei Tage später stieg die Zahl auf knapp 30.000 Personen. Wie bereits in den Jahren seit 2018, hat sich Anzahl der geglückten Bootspassagen ein weiteres Mal gegenüber dem Vorjahreszeitraum verdoppelt. Währenddessen hat mit Suella Braverman eine neue britische Innenministerin die Amtsgeschäfte aufgenommen, die ernsthaft eine Reduzierung der Überfahrten auf Null propagiert.
Kategorie: Channel crossings & UK
In wenigen Tagen, vielleicht auch nur in wenigen Stunden, werden so viele Menschen den Ärmelkanal seit Jahresbeginn in kleinen Booten passiert haben wie im gesamten Jahr 2021. Waren es damals rund 28.500 Personen, so sind es in diesem Jahr bereits knapp 27.500. Das Erreichen der jeweiligen Vorjahreszahl und die darin sichtbare Dymanik der Migration auf der Kanalroute sind im britischen Mediendiskurs seit einigen Jahren ein symbolbelades Ereignis. In diesem Jahr fällt es mit der Entscheidung über die Übernahme des Parteivoritzes der Konservativen Partei und damit der künftigen Regierungsgeschäfte durch Liz Truss zusammen – und mit dem Rücktritt von Innenministerin Priti Patel, die auf diese Weise vermutlich ihrer Entlassung durch Truss zuvorkam.
Über einen Rekordtag
„Spoke to two people in Calais who attempted to cross the Channel yesterday in what was the highest number of people to reach the UK by small boat. They are dejected it wasn’t them, but buoyed up by the news. Hopeful they’ll make it in the next few days, not at all deterred.“ Mit diesen Worten beschrieb die britische Journalistin Nicola Kelly ihre Eindrücke, nachdem am 22. August 2022 bei günstiger Witterung fast 1.300 Menschen die Passage des Ärmelkanals gelungen war.
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Die Frequentierung der Kanalroute nimmt weiterhin stark zu. Nachdem das britische Verteidigungsministerium am gestrigen 13. August die Ankunft von 604 Personen in 14 Booten bestätigte, liegt die Gesamtzahl der Bootspassagier_innen seit Jahresbeginn nun über 20.000. Im vergangenen Jahr war diese Zahl erst Anfang November erreicht worden (siehe hier) und ein weiteres Jahr zuvor waren es während des gesamten Jahres weniger als zehntausend Personen gewesen. Die Ankündigungen der konservativen britischen Regierung, den Markt für kommerziell angebotene Bootspassagen durch immer existenziellere Maßnahmen gegen die Exilierten austrocknen zu wollen, erweisen sich erneut als Wunschdenken.
Die britische Boulevardpresse erlaubt momentan aufschlussreiche Einblicke, und zwar sowohl in Interna des britischen Grenzregimes, als auch in das konservative Campaigning zur Rettung des britisch-ruandischen Migrationsdeals. Nebenher macht ein Blick in die Boulevardpresse eine aktuelle Tendenz der Migration auf der Kanalroute sichtbar, nämlich eine verstärkte Präsenz albanischer Migrant_innen. Letzteres wird von konservativen Hardlinern skandalisiert, belegen die Albaner_innen doch scheinbar, dass die Channel crossings keine Fluchtmigration seien und der vehemente Protest linker, liberaler und kirchlicher Organisationen gegen den britisch-ruandischen Migrationsdeal auf Fakes basiere. Grundlage dieser Skandalisierung ist ein geleakter Report des britischen Militärs, das seit April 2022 für die Bekämpfung der kanalüberfreifenden Bootsmigration zuständig ist.
Nach der Rücktrittsankündigung von Boris Johnson als britischer Premierminister loten mehrere führende britische Verteidigungspolitiker das Ende des Einsatzes der Royal Navy zur Verhinderung von Kanalpassagen in kleinen Booten aus. Laut einem Beitrag des Guardian vom 9. Juli sind sie angesichts wachsender globaler Sicherheitsbedrohungen frustriert darüber, Ressourcen für einen Plan aufzuwenden, der aus ihrer Sicht bereits gescheitert ist: seit der Übernahme der Führung durch die Marine Mitte April, seien doppelt so viele Überfahrten registriert worden wie in den drei Monaten davor.
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Wie französische Medien berichten, wurden Ende Juni fünfzehn Personen in Polizeigewahrsam genommen. Sie werden verdächtigt, als Angehörige einer Schleusungsorganisation für die Havarie am 24. November 2021 verantwortlich zu sein, bei der mindestens 27 Menschen im Ärmelkanal ertranken. Es war die tödlichste Havarie in der Geschichte der Kanalroute. Doch beleuchtet die nun beginnende strafrechtliche Aufarbeitung nur einen Teil des Geschehens, das zur Katastrophe führte.
Wir freuen uns, auf eine vertiefende Analyse des britisch-ruandischen Migrations-Deals hinweisen zu können: Der Beitrag unter dem Titel One-way-Ticket nach Afrika entstand als gemeinsames Projekt der Journalistin Sabine Schlindewein mit der Redaktion unseres Blogs und wurde auf dem Portal Migration Control veröffentlicht. Er beleuchtet den Versuch der britischen Regierung, Geflüchtete unabhängig von ihrer Nationalität und Herkunft nach Ruanda zu verbringen, aus einer doppelten Perspektive: der migrationspolitischen Entwicklung Großbritanniens und Ruandas. Aus dem Inhalt:
Einen Tag, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Verbringung von Geflüchteten nach Ruanda in letzter Minute stoppte, gab die britische Regierung am 15. Juni 2022 eine neue Maßnahme bekannt: Den Start eines Modellversuchs zur elektronischen Markierung und Überwachung von Migrant_innen. Die Maßnahmen flankiert den britisch-ruandischen Asylpakt, an dem die Regierungt Johnson nach wie vor festhält. Sie richtet sich gegen Migrant_innen, die aus der EU in Schlauchbooten und versteckt auf Lastwagen nach Großbritannien eingereist sind. Zu den ersten Betroffenen gehören voraussichtlich diejenigen, deren Deportation nach Ruanda das Straßburger Gericht vorläufig verhindert hat.
Für den gestrigen 14. Juni 2022 hatte die britische Regierung den ersten Flug angesetzt, mit dem illegalisierte Geflüchtete im Rahmen des britisch-ruandischen Migrationsdeals deportiert werden sollten. Wäre es dazu gekommen, so wäre dies ein Novum in der europäischen Migrationspolitik gewesen. Doch obschon internationale Medien bereits gemeldet hatten, dass der Abschieflug plangemäß durchgeführt werde, fand er nicht statt. Entscheidend dafür war eine Eilentscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Klagen mehrerer zivilgesellschaftlicher Organisationen, darunter Cafe4Calais, waren also erfolgreich, wenngleich dies nicht bedeutet, dass die britische Regierung nicht weitere Anläufe versuchen wird, um Channel migrants allein wegen ihrer Einreiseform aus dem britischen Asylsystem auszuschließen und unabhängig von ihrer Nationalität nach Ruanda zu deportieren. Ob sich der Ruanda-Deal also in die Reihe gescheiterter Verschärfungen der britischen Grenzpolitik einreihen wird, muss also vorerst offen bleiben. Wir dokumentieren im Folgenden eine Erklärung, die Care4Calais heute über den Stopp der Deportationen veröffentlicht hat: