Neun Boote mit 209 Geflüchteten an Bord erreichten in der Nacht vom 28. auf den 29. April 2021 von Frankreich aus Großbritannien. Es war die größte Anzahl erfolgreicher Channel crossings seit Jahresbeginn. Insgesamt haben in diesem Jahr nach Angaben der BBC bereits „mehr als 1.850“ Migrant_innen den Ärmelkanal in kleinen Booten passiert. Das rechte Portal Migration Watch spricht sogar von 2.004 Personen und schlägt die üblichen alarmistischen Töne an. Wieviele Migrant_innen genau es auch geschafft haben mögen – die schon im Februar und März sichtbare stärkere Frequentierung der Kanalroute (siehe hier und hier) hält an. Zum gleichen Zeitpunkt des vergangenen Jahres war weniger als tausend und im gesamten Jahr 2019 knapp zweitausend Personen die Bootspassage gelungen.
Schlagwort: Ärmelkanal
Kürzlich berichteten wir an dieser Stelle über eine am 9. März versuchte Bootspassage von der Küste der Normandie nach Großbritannien (siehe hier). Dies ist nicht der einzige Fall, bei dem ein Boot weit abseits der Meerenge zwischen Calais und Dover entdeckt wurde, wo sich die Bootspassagen hauptsächlich abspielen. Wie das Portal InfoMigrants unter Berufung auf regionale Medien berichtet, erblickten Bewohner_innen am 4. April 2021 ein Boot mit rund 30 Geflüchteten aus dem Irak und Vietnam vor dem Küstenort Quend-Plage, der etwa 60 Kilometer südlich von Boulogne-sur-Mer liegt. Da die Menschen in Seenot geraten waren, wurden die Rettungsdienste verständigt. Die Passagiere wurden unverletzt geborgen und im Ort versorgt. Teils setzten sie sich ab, teils wurden sie polizeilich verhört und mit der Auflage entlassen, die Region zu verlassen.
Dreimal mehr Passagen

In der medialen Repräsentation der Bootspassagen nach Großbritannien spielen Rekordwerte eine zentrale Rolle. Im vergangenen Jahr wurden regelmäßig neue Tages- und Monatshöchstwerte gemeldet, bis schließlich ein neuer Jahresrekord von etwa achteinhalbtausend Personen erreicht war. Den Rekordmeldungen haftete dabei etwas Alarmistisches an, und dieser Ton wurde durch den britischen Boulevard, konservative Politiker_innen und rechte Aktivist_innen zum Szenario einer Invasion der Insel verdichtet. Nach langer Ankündigung legte die britische Regierung dann am 24. März 2021 Pläne eines Zweiklassen-Asylrechts vor, das sich explizit gegen die Channel crossers richtet (Analyse folgt). Zur gleichen Zeit wurde deutlich, dass die Kanalroute in den ersten drei Monaten dieses Jahres von sehr viel mehr Menschen erfolgreich genutzt wurde als im Vorjahr. Wie die BBC am 24. März, dem Tag der Veröffentlichung der Regierungspläne, meldete, haben seit Januar 1.045 Geflüchtete in Booten übergesetzt; im gleichen Zeitaum des Vorjahres waren es 338 gewesen. Die Zahl hat sich also verdreifacht, sodass sich eine Normalität andeutet, die die Rekordtage des vergangenen Jahres in den Schatten stellen dürfte.

In diesem Jahr sind bereits über 700 Geflüchtete per Boot von Frankreich nach Großbritannien gelangt, etwa doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Dynamik der Channel crossings dauert also unvermindert ab. Doch auch räumlich könnte sich das Gebiet ausweiten, in dem diese maritimen Grenzübertritte stattfinden: Am 9. März meldeten französische Behörden und Medien, dass von Dieppe in der Normandie erstmals ein Boot mit Migrant_innen in See gestochen sei. Die von dort aus zurückzulegende Strecke ist bedeutend länger als im Küstenabschnitt von Calais – und entsprechend riskanter.
Seit der Nacht vom 2./3. März 2021 wird ein junger Sudanese bei Calais auf See vermisst, und nach Lage der Dinge ist es sehr wahrscheinlich, dass er nicht mehr lebt. Wie lokale Medien und das Portal InfoMigrants berichten, waren vier Geflüchtete aus dem Sudan von Sangatte, einer westlichen Nachbargemeinde von Calais, aus mit einem Kanu nach Großbritannien aufgebrochen. Nach dem Kentern des Bootes waren am späten Abend des 2. März zunächst zwei Passagiere unabhängig voneinander im Bereich der im Bau befindlichen Hafenerweiterung von Calais entdeckt worden. Beide hatten sich selbst dorthin gerettet und wurden anschließend im Krankenhaus behandelt. Am folgenden Morgen wurde dann ein weiterer Passagier gefunden. Dieser habe bestätigt, dass noch eine vierte Person an Bord gewesen sei: ein sudanesischer Jugendlicher, der nicht habe schwimmen können. Die daraufhin intensivierte Suchaktion mit Rettungsschiffen und einem Hubschrauber wurde schließlich gegen 15 Uhr bei dichtem Nebel eingestellt. Die Behörden gehen davon aus, dass der junge Mann nicht überlebt hat und sein Körper durch die Strömung in Richtung Belgien und Niederlande getrieben wurde. Aufgrund der niedrigen Temperaturen ist ein Überleben im Wasser nur kurze Zeit möglich. Es wäre der 302. dokumentierte Todesfall im Kontext der kontinentaleuropäisch-britischen Migration.

In einem der ersten Beiträge dieses Blogs berichteten wir im April 2020 über den zahlenmäßigen Anstieg der Bootspassagen nach Großbritannien (siehe hier). Damals war seit Jahresbeginn etwa 500 Menschen die Überfahrt gelungen – ein Viertel der erfolgreichen Passagen des gesamten Vorjahres. Nun, ein Jahr später, haben in nur zwei Moanten bereits 531 Menschen den Ärmelkanal in kleinen Booten durchquert. Die Dynamik dieser innereuropäischen maritimen Migrationsroute scheint damit ungebrochen zu sein. Ein weiteres Mal kündigte die britische Regierung nun ihre Schließung an, diesmal durch eine Angleichung des Strafmaßes für Menschenschmuggel an das Strafmaß für Mord.

Trotz der eisigen Temperaturen, aber begünstigt durch eine ruhige Wetterlage, hat die Zahl der Bootspassagen in den vergangenen Tagen wieder zugenommen. Am 9. Januar erreichten 103 Menschen Großbritannien per Boot; dies waren mehr als im gesamten Januar 2020, als es knapp 100 gewesen waren. Weitere 20 Personen schafften die Kanalquerung am 10. Januar.
Im Jahr 2020 passierten sehr viel mehr Migrant_innen den Ärmelkanal in Booten als jemals zuvor. Laut verschiedenen britischen Quellen waren es über 8.400, vielleicht über 8.700 Personen und mehr als 500 Boote – mehr als viermal so viele wie im Vorjahr und ein Vielfaches mehr als in früheren Zeiten. Während dies nur einen Bruchteil des Migrationsgeschehens nach Großbritannien ausmacht, sind die Boote zur vorherrschenden und effizientesten Migrationstechnik im Calais-Kontext geworden. Aber trotz ihrer hohen Erfolgsausicht hat diese Migrationstechnik Schattenseiten.
Interview mit Maël Galisson über die Toten der französisch-britischen Grenze (Teil 3)
English version below

Im letzten Teil des Interviews spricht Maël Galisson über die Todesfälle auf See, über die Sekuritisierung des Ärmelkanals, über den Umgang mit den Körpern der Toten und über das, was politisch zu tun wäre.
von Thom Tyerman und Travis Van Isacker
Vorbemerkung: Der folgende Essay behandelt das kontinentaleuropäisch-britische Grenzergime vor dem Hintergrund der zahlreichen Bootspassagen im Sommer 2020. Er wurde am 9. Oktober unter dem Titel Border Securitisation in the Channel auf dem Blog Border Criminlogies veröffentlicht. Der Blog stützt sich auf ein transnationales Netzwerk zur Grenzregimeforschung und ist am Centre for Criminology der Universität Oxford angesiedelt. Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit politischen Aktivist_innen, die zum britischen Grenzregime in Nordfrankreich arbeiten, darunter: Watch the Channel, Calais Migrant Solidarity und Calais Research. Die Autoren forschen über die Sekuritisierung der britischen Grenzen und haben u.a. über Räumungen migrantischer Lebensorte in Calais publiziert. Im Mittelpunkt des folgenden Textes steht die Fragen, inwiefern die zunehmende Grenzsicherung die Risiken der Kanalquerung verstärkt und ob die Forderung nach legalen und sicheren Routen tatsächlich einen Ausweg aus dieser Situation eröffnet.