Zum wiederholten Mal ist am 28. Juli 2024 ein Mensch bei der Überfahrt eines Schlauchboots nach Großbritannien gestorben. Der leblose Körper wurde während eines Rettungseinsatzes an Bord eines Schlauchbootes entdeckt, auf dem sich mehr als siebzig Personen befanden. Es ist der 27. Todesfall seit Jahresbeginn und der siebte im Monat Juli.
Schlagwort: Calais
Ein rechtsfreier Raum
Details zu Übergriffen vor der Räumung des besetzten Hauses in Calais
Am 2. Juli wurde ein seit 2022 besetztes und durch einen Gerichtsbeschluss bis 2025 legalisiertes Haus in der Calaiser Innenstadt geräumt (siehe hier). Nun machten Aktivist_innen einige Vorkommnisse öffentlich, die schließlich zur Räumung führten, zugleich aber ein weiteres Schlaglicht auf die Situation nach der fatalen Europawahl vom 9. Juni 2024 werfen. Demnach schufen Nachbar_innen, Rechtsextreme, Medien und Behörden rund um das Haus eine Art rechtsfreien Raum. Die Ereignisse wirken wie ein Vorgeschmack auf Zustände, die bei einer Regierungsübernahme durch den Rassembelement National vermutlich gängig geworden wären – in Calais aber nicht wirklich verwundern. Daher lohnt ein Rückblick.
Bei der Havarie eines Schlauchbootes starb am 19. Juli 2024 ein weiterer Exilierter. Nach den Havarien am 12. Juli mit vier Todesopfern (siehe hier) und am 17. Juli mit einem Todesopfer (siehe hier) ist es der sechste Grenztote innerhalb einer Woche. Eine solche Häufung tödlicher Ereignisse ist außergewöhnlich und verheißt Schlimmes für die zweite Hälfte des Jahres.
Besetztes Haus in Calais geräumt
Seit Februar 2022 beherbergte ein besetzter Altbau in der Innenstadt von Calais obdachlose Migrant_innen, verbunden mit dem Anspruch, einen sozialen Raum jenseits von Nationalität und Status zu eröffnen. Das Projekt war im Oktober 2022 soweit legalisiert worden, dass es voraussichtlich bis 2025 hätte bestehen können (siehe hier, hier und hier). Am 2. Juli 2024 wurde es nun vorzeitig und nach Ansicht von Aktivist_innen rechtswidrig geräumt.
Calais nach der Zäsur der Europawahl am 9. Juni 2024
Die Auflösung der französischen Nationalversammlung nach der Europawahl am 9. Juni 2024 hat der extremen Rechten die Möglichkeit eröffnet, erstmals in der Geschichte der Fünften Republik die Regierungsmacht an sich zu ziehen. Der 9. Juni war zugleich Auslöser rassistischer und rechtsextremer Gewalttaten, auch an der nordfranzösischen Küste. Sie richteten sich sowohl gegen Exilierte als auch gegen zivilgesellschaftliche Organisationen. Das französische Onlinemedium InfoMigrants gab am 21. Juni einen Einblick in die Vorfeldsituation der möglichen politischen Katastrophe.
Ende Mai veröffentlichten französische NGOs in der Libération die gemeinsame Erklärung A la frontière franco-britannique, la mort n’est pas une fatalité (An der britisch-französischen Grenze ist der Tod kein unabwendbares Schicksal). Damit wollen sie den Blick auf die Zunahme von Todesfällen in vergangenen Halbjahr lenken, den sie als Folge migrationspolitischer Fehlentscheidungen deuten. Zugleich unterstützten sie einen Vorstoß französischer Abgeordneter nach einer parlamentarischen Untersuchung zum Vorgehen der Ordnungskräfte und zur Lage der Menschenrechte im französisch-britischen Grenzraum. Lokale Initiativen legen währenddessen weitere Belege für ein gewaltsames Vorgehen gegen ablegende Schlauchboote vor.
Bereits am 8. April 2024 starb ein Exilierter auf einer Autobahn in der Nähe der wallonischen Hauptstadt Namur. Offenbar hatte er sich in Calais in einem Lastwagen versteckt, der jedoch nicht, wie erhofft, nach Großbritannien fuhr. Seit Jahren geraten Exilierte immer wieder in solche Situationen, die nicht selten lebensgefährlich sind (siehe zuletzt hier).
Seit 2017 dokumentiert Human Rights Observers (HRO) polizeiliche Räumungen informeller Lebensorte im nordfranzösischen Küstengebiet. In den monatlichen Berichten der Organisation spiegelt sich die unfassbar hohe Zahl der Räumungen in Calais ebenso wie die Massivität der Räumungen bei Dunkerque. Für das Jahr 2023 liegen bislang nur unvollständige Zahlen vor. Dennoch möchten wir versuchen, das Ausmaß und die Intensität der Räumungen zu umreissen.
Grausamer Tod im Lastwagen
Erneut endete eine versuchte Grenzpassage bei Calais tödlich. Aus ersten Medienberichten geht hervor, dass ein Exilierter bei der Kontrolle eines Lastzugs leblos entdeckt wurde. Offenbar war er von der Ladung eingeklemmt und getötet worden. Der Leichenfund ereignete sich in Transmarck, einem Gewerbegebiet, das auf den Frachtverkehr nach Großbritannien spezialisiert ist und daher seit Jahren auch eine Zwischenstation für Geflüchteten ist, die nicht die Mittel für eine Bootspassage besitzen.
Die Havarie von Wimereux im Kontext der Grenzpassagen um die Jahreswende 2023/24
Beim Ablegen eines Schlauchbootes bei Wimereux starben am frühen Morgen des 14. Januar 2024 fünf Geflüchtete (siehe hier). Vier von ihnen, Abadeh (14 Jahre), Mohamed (16 Jahre), Ayham (24 Jahre) und sein Bruder Aysar (26 Jahre), konnten inzwischen identifiziert werden; sie alle sind syrischer Nationalität. Ihr Tod fällt mit dem Wiederbeginn der Bootspassagen nach einer fast einmonatigen Unterbrechung zusammen. Doch auch in dieser witterungsbedingten Pause kam es zu lebensbedrohlichen Situationen, und zwar an Bord von Kühlfahrzeugen. Dies zeigt einmal mehr, dass hochriskante Grenzpassagen nicht nur per Schlauchboot stattfinden und dass sie einen sehr viel weiteren geographischen Raum betreffen als den Küstenabschnitt von Boulogne-sur-Mer, Calais und Dunkerque.