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Dunkerque & Grande-Synthe

Die Salven von Loon-Plage

Jungle an der Grenze von Dunkerque und Loon-Plage, März 2022. (Foto: Th. Müller)

In den vergangenen Tagen eskalierte im Umfeld der Camps bei Dunkerque ein mutmaßlicher Konflikt zwischen professionellen Schmugglern. Binnen weniger Tage wurden ein Mensch erschossen und mehrere weitere durch Schüsse teils schwer verletzt. Während der mittäglichen Essensverteilung war ein von Hunderten Menschen bewohntes Camp in Loon-Plage dem Feuer schwerer Waffen ausgesetzt. Freiwillige berichten von Schüssen, die in Salven abgegeben wurden. Dass sich vor allem in diesem Abschnitt der französischen Kanalküste mafiose Strukturen von Schmugglern herausgebildet haben, ist nicht neu, allerdings geht die jetzige Eskalation deutlich weiter. Die Behörden reagierten auf die Gewalt mit Ermittlungen wegen Mordes und Mordversuchs sowie der Räumung des betroffenen Camps. Wir fassen zusammen, was bislang bekannt ist.

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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Über 600 Räumungen seit Jahresbeginn

Räumung bei Dunkerque. (Foto: Human Rights Observers)

Im Gebiet von Calais und Dunkerque haben seit Jahresbeginn mehr als 600 Räumungen informeller Lebensorte von Exilierten stattgefunden. Während die Polizeioperationen in Calais weiterhin in großer Zahl und enger zeitliche Taktung durchgeführt werden, finden sie in Grande-Synthe und anderen Randbereichen von Dunkerque seltener, dafür aber sehr viel massiver statt. Die kontinuierliche Beobachtung durch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Observers (HRO) zeigt Kontinuitäten und Veränderungen dieser grenzpolitischen Praxis, vor allem aber dokumentieren sie den anhaltenden menschenrechtlichen Erosionsprozess an der französischen Kanalküste. Gleichzeitig versucht HRO, diese Zustände mit rechtlichen Mitteln anzugreifen.

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Calais

Ein mutmaßlicher Suizid (2)

Über den jungen Mann, dessen Leichnam am 11. Mai erhängt in einem Lastwagenanhänger im Gerbegebiet Transmarck entdeckt wurde, ist inzwischen Näheres bekannt. Bewohner_innen des Old Lidl-Camps identifizierten ihn als Hassan, 27 Jahre alt, und anders als zunächst gemeldet, kam er nicht aus Eritrea, sondern dem Sudan. „Die Politik an den Grenzen tötet. […] Welche emotionalen Auswirkungen hat das auf die Exilierten?“, hatte eine am Ort tätige zivilgesellschaftliche Gruppe nach dem mutmaßlichen Suizid geschrieben (siehe hier). Eine Reportage des französischen Blogs InfoMigrants beantwortet dies nicht – wie auch? Aber sie skizziert die Situation einiger junger Männer, die mit Hassans Tod konfrontiert sind. Am Tag, als die Reportage erschien, wurde Hassans Camp einmal mehr geräumt.

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Calais

Die Briefkästen der Camps

Briefkasten des Camps Old Lidl, 1. April 2022. (Foto: Human Rights Observers)

[Updated, 11. April 2022] Um die rechtliche Stellung der Exilierten in Calais zu verbessern und insbesondere den permanenten Räumungen entgegenzuwirken, hat Human Rights Observers Anfang April zu einer auf den ersten Blick skurrilen, tatsächlich aber wohldurchdachten Maßnahme gegriffen: Im Namen der Bewohner_innen statteten sie die wichtigsten inoffiziellen Lebensorte der Migrant_innen mit Briefkästen aus.

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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Zwei Kreise der Hölle

Siedlungen Exilierter bei Calais und Grande-Synthe

In diesem Beitrag werden wir zwei Jungles vergleichend beschreiben, einen in der Nähe von Calais und einen in der Nähe von Grande-Synthe – eine geographische Zuordnung, die ihre Lage in den kommunalen Verwaltungsgebieten nur grob beschreibt.

Grundlage dieses Vergleiches sind Beobachtungen vor Ort, die wir am 15. März am Siedlungsplatz Old Lidl und am 16. März in der Siedlung in Loon-Plage / Dunkerque gemacht haben, sowie Hintergrundgespräche mit Exilierten und verschiedenen Vertreter_innen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Außerdem eine beobachtete Räumung am 16. März in der Nähe des Calaiser Krankenhauses, ergänzt durch Ergebnisse aus früheren Recherchen, Gesprächen und Aufenthalten vor Ort.

Old Lidl zwischen Calais und Marck

Der Siedlungsplatz „Old Lidl“ – von den Behörden Turquerie genannt – befindet sich auf dem Gebiet der Gemeinde Marck, unmittelbar an der Stadtgrenze zu Calais. Er liegt zwischen einem Schienenstrang im Norden, sowie diverser LKW-Infrastruktur im Süden und Osten, welche über die Avenue Henri Ravisse an die A16 angebunden ist. Aus Marck ist das Gelände zugänglich von der Avenue Henri Ravisse, aus Calais von einer Kurve, in der die Rue de Normandie in die Rue du Beau Marais übergeht. Dieser Zugang ist durch die Behörden mit einem Erdwall und Findlingen für Kraftfahrzeuge versperrt worden, um die Ausgabe von Essen und Hilfsgütern zu blockieren.

Erdwall und Steinbarrieren am Zugang zum „Old Lidl“. (Foto U. Schlüper)
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Calais

Politik der gepflügten Erde

Gelände des Camps Old Lidl nach dem Umpflügen am 4. März 2022. (Foto: Utopia 56 / Twitter)

Das unter dem Namen Old Lidl bekannte Camp an der Stadtgrenze von Calais und Marck wird immer stärker unter Druck gesetzt. Am 4. März 2022 veränderten die Behörden die Topographie des Siedlungsplatzes auf brachiale Weise, indem sie den Boden umpflügten. Die Maßnahme reiht sich in eine Reihe ähnlicher Umweltveränderungen ein, die wir in Calais und Grande-Synthe seit einigen Jahren beobachten konnten und die auf den Entzug räumlicher Ressourcen und die Schaffung einer lebensfeindlichen Umgebung abzielen (siehe etwa hier, hier, hier und hier). Im konkreten Fall erhöht sie außerdem die Gefahr von Unfällen, weil sie Geflüchtete dazu drängt, ihre Fußwege auf eine vorbeiführende Bahntrasse zu verlegen. Vier Tage vor dem Pflügen starb genau auf diesem Gleis Aboubakar, ein sudanesischer Bewohner des Camps (siehe hier).

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Calais

Die Ukraine und Calais (2)

[Updated, 14. März 2022] Nach wie vor verweigert die britische Regierung Geflüchteten aus der Ukraine ein Visum, sofern diese nicht eng gefasste Kriterien erfüllen (siehe hier). Anfang März ist eine kleine Zahl ukrainischer Kriegsflüchtlinge in Calais angekommen, die binnen weniger Tage auf einige hundert Personen zunahm. Wie dokumentieren im Folgenden einen Artikel von Care4Calais und Statements anderer Gruppen über die aktuelle Situation. Wie auch andere lokale Organisationen, etwa l’Auberge des migrants und Utopia 56, weist Care4Calais auf eine Doppelmoral der Behörden hin. Denn vor dem Hintergrund der transnationalen Solidarisierung gegen den russischen Überfall auf die Ukraine zeigt sich eine Selektivität der Hilfe: Während die Unterpräfektin und die Bürgermeisterin von Calais umgehend eine Unterbringung ukrainischer Geflüchteter in Hotels und einer Jugendherberge in Aussicht stellten, gilt dies für Geflüchtete aus anderen, nichteuropäischen Kriegsgebieten nicht; ihre Camps werden vielmehr weiterhin massiv unter Druck gesetzt. Die lokale Migrationspolitik unterscheidet damit scharf zwischen Geflüchteten, für die aktive Hilfe mobilisiert wird, und Geflüchteten, denen zu helfen öffentlich diskreditiert, aktiv behindert und seit anderthalb Jahren sogar als Ordnungswidrigkeit bestraft wird (siehe hier). Hierin zeigen sich sicherlich tief sitzende rassistiche Denk- und Handlungsmuster, und vermutlich geht es auch darum, in der jetzigen politischen Situation keine Bilder ukrainischer Geflüchteter in den Calaiser Camps entstehen zu lassen. Dass die Behörden eine kleine Anzahl von Geflüchteten nun überhaupt menschenwürdig unterbringen, ist natürlich vollkommen zu begrüßen. Es sollte jedoch zum Nukleus einer menschenwürdigen Unterbringung aller werden.

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Calais

Permanent in flagranti: Räumungen im Winter

Protest von dem Rathaus von Calais. (Foto/Grafik: Faim aux frontières)

Zweiunddreißig Tage lang protestierten abwechselnd rund 50 Menschen vor dem Rathaus von Calais, um die Forderungen sichtbar zu machen, die bereits während des Hungerstreiks in der Kirche Saint-Pierre im Oktober und November 2021 aufgestellt worden waren (siehe hier). Im Kern ging und geht es um ein Ende der permanenten Räumungen zumindest während des Winters, um ein Ende der massiven Beschlagnahmungen und um repressionsfreie Arbeitsbedingungen für die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die einen Großteil der elementaren Versorgung der Camps leisten. Der Protest vor dem Rathaus stand in der Nachfolge des Hungerstreiks und wird, wie das Kollektiv Faim aux frontières mitteilte, nicht die letzte politische Intervention bleiben. Allerdings hat der Protest nicht zu einer Revision der Zermürbungstaktik gegenüber den Exilierten geführt. Die dokumentarische Arbeit der Human Rights Observers (HRO) in diesem Winter zeigt, dass elementare Recht auf ein menschenwürdiges Leben, insbesondere auf Wohnung und Eigentum, weiterhin massiv und systematisch verletzt werden.

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Calais Solidarität

Räume der Solidarität: Aktivist_innen besetzen Häuser in Calais

Die Besetzer_innen veröffentlichten am 7. Februar dieses Foto des besetzten Wohnblocks in Calais. (Foto: Calais Logement pour Tous.tes)

Im zeitlichen und politischen Kontext der Commémoraction-Demonstration am 6. Februar besetzten Aktivist_innen zwei Häuser in Calais: ein leerstehendes Wohnhaus in der Rue Frédéric-Sauvage im Stadtteil Fontinettes und einen zehnstöckigen Wohnblock in der Rue d’Ajaccio im Stadtteil Fort-Nieulay. In diesem Gebiet im Westen der Stadt bestehen seit mehreren Jahren informelle Camps von Geflüchteten. Obschon die Besetzungen offenbar bereits einige Tage früher durchgeführt wurden, machten die Aktivist_innen sie erst am 7. Februar öffentlich. Gleichzeitig erklärten sie ihre Solidarität mit den Geflüchteten und anderen Menschen in prekären Verhältnissen, baten um überregionale Unterstützung – und sehen sich zur Stunde durch ein massives Polizeiaufgebot belagert.

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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Über 1200 Räumungen im Jahr 2021

Räumung in Calais. (Foto: Human Rights Observers)

Durch die tägliche Präsenz von Human Rights Obervers (HRO) sind wir in der Lage, nicht nur das momentane Ausmaß der Räumungspolitik in Calais und Grande-Synthe zu verfolgen. Das Datenmaterial ermöglicht es auch, Entwicklungen über längere Zeiträume zu analysieren. Dabei wird einmal mehr sichtbar, mit welch hohem logistischen Aufwand die elenden Lebensverhältnisse der Exilierten hergestellt werden und welch eine zentrale Rolle der Ressourcenentzug dabei spielt. Konkret liegt die Zahl der dokumentierten Räumungen allein in Calais über 1.200. Bei diesen Aktionen wurden in Calais und Grande-Synthe rund 10.000 Zelte und Schutzplanen, über 3.000 Schlafsäcke und Decken und über 600 Rucksäcke bzw. Taschen beschlagnahmt. Dies ist das Zwei- bis Dreifache der Menge von 2020 nud ein Vielfaches von 2019 (siehe hier und hier). Doch diese Verschärfung der Lage ist nicht alles: Auch der Solidaritäts-Hungerstreik dreier Aktivist_innen im vergangenen Herbst scheint in den Datenreihen eine Spur hinterlassen haben.