Im vergangenen Jahr überquerten 45.670 Menschen den Ärmelkanal auf riskante Weise per Schlauchboot. [Update: Am 2. Januar wurde die Zahl konkretisiert auf 45.756 Personen.] Dies waren so viele wie noch nie, seitdem im Herbst 2018 zum ersten Mal einige hundert Geflüchtete per Boot übergesetzt und damit eine neue maritime Migrationsrote in Europa erschlossen hatten. Der abermalige Anstieg der Passagen fällt in eine Zeit, in der sich die nach rechts gerückte britische Regierung als Promotor einer neuen inernationalen Migrationspolitik inszeniert, die in ihrer Radikalität inzwischen ohne weiteres mit dem Italien Melonis oder dem Ungarn Orbans verglichen werden kann.
Autor: tm
Seit 1999 starben im britisch-kontinentaleuropäischen Grenzraum mehr als 360 Menschen. Sie alle sind direkt oder indirekt Opfer einer Migrationspolitik, die eine sichere und legale Passage der Grenze für sie unmöglich gemacht hat. Keiner dieser Menschen hätte in einer anderen politischen Konstellation sterben müssen. Zivilgesellschaftliche und politische Initiativen sowie das Missing Migrants Projekt der IOM dokumentieren das Geschehen seit Jahren. Auch wir haben über alle Fälle, die uns bekannt geworden sind, berichtet. Fügt man diese Informationen zusammen, so zeigt sich, dass 2022 mindestens neunzehn Migranten ums Leben kamen (die männliche Form trifft zu, denn es waren keine Frauen unter den dokumentierten Fällen). Sie starben in unterschiedlichen Situationen teils auf Land und teils auf See, teils bei versuchten Grenzpassagen, teils durch Suizid oder durch Gewalt, teils im Zusammenhang mit den Lebensbedingungen in einem informellen Camp oder in einer offiziellen Einrichtung. Da mehrere Menschen nach Havarien vermisst werden, muss von weiteren Todesfällen ausgegangen werden.
Eine Woche nach der tödlichen Havarie im Ärmelkanal (siehe hier und hier) veröffentlichen zivilgesellschaftliche Organisationen und Aktivist_innen aus Frankreich, Großbritannien und Belgien ein gemeinsames Statement zur Lage der Geflüchteten auf der Kanalroute. Sie stellen den Tod der vier Menschen in den Kontext der hostile environment-Politik beiderseits des Ärmelkanals, wenden sich gegen die aktuellen Verschärfungen der Migrationspolitik und plädieren für Bewegungsfreiheit. Im Folgenden dokumentieren wir den auf der Website des Joint Council for the Welfare of Immigrants veröffentlichten Text:
In den Nachtstunden des 14. Dezember 2022 havarierte im Ärmelkanal ein Schlauchboot. Vier Geflüchtete verloren ihr Leben (siehe hier). Nach der Havarie veröffentlichten sowohl zivilgesellschaftliche Organisationen, als auch die zuständige französische Seepräfektur, genauere Informationen über das nächtliche Geschehen auf See. Ein Abgleich dieser Daten wirft die Frage nach operativen bzw. institutionellen Defiziten insbesondere der französischen Leitstelle auf. Außerdem wurde bekannt, dass wiederholte Notrufe eines anderen Bootes in derselben Nacht ins Leere liefen.
Ein erzwungener Tag ohne Räumungen
Durch eine solidarische Aktion hat es am heutigen 18. Dezember 2022 – dem Internationalen Tag der Migrant_innen – in Calais keine Räumungen und Beschlagnahmungen gegeben. Erreicht wurde dies durch die Blockade von Fahrzeugen, die routinemäßig solche Maßnahmen durchführen. Die Aktivist_innen prangerten in einer Erklärung (siehe unten) die andauernde Verletzung elementarer Menschenrechte an. Zugleich erinnerten sie an die tödliche Havarie vom 14. Dezember und die zahlreichen Todesfällen seit 2021.
Zum wiederholten Mal wurde am 7. Dezember 2022 der Jungle von Loon-Plage geräumt. Dabei wurden nicht nur Zelte und persönliches Eigentum der Bewohner_innen zerstört, sondern auch weitere Betonsperren errichtet. Diese machen es zivilgesellschaftlichen Organisationen unmöglich, im Fall einer Wiederbesiedlung des Geländes Trinkwasserbehälter zu unterhalten. Dabei stellt der Zugang zu Trinkwasser ein elementares Menschenrecht dar, und nicht nur dieses Recht wird in Loon-Plage verletzt.
Rechte Übergriffe auf Freiwillige
Der Brandanschlag auf ein Aufnahmezentrum für Channel migrants im Hafen von Dover am 30. Oktober 2022 (siehe hier) wirft die Frage nach rechtsextremer Gewalt im Kontext der französisch-britischen Grenze auf. Wir haben daher in Calais nachgefragt und erfuhren von Übergriffen gegen freiwillige Helfer_innen und gegen Versorungsinfrastrukten für Exilierte. Am 23. September 2022 gipfelte dies in Steinwürfen auf einen Transporter der Hilfsorganisation Collective Aid. Hinter den Übergriffen steht vor allem ein Anwohner, der inzwischen für den Sachschaden an dem Fahrzeug haftbar gemacht wurde. Nicht aber für den Angriff gegen Personen.
Kurz nach dem Jahrestag der schweren Havarie vom 24. November 2021 ordnete die französische Premierministerin Élisabeth Borne nun eine Verstärkung der Seenotrettung für Geflüchtete im Ärmelkanal an. In einem ersten Schritt sollen zwei zusätzliche Schiffe für Rettungseinsätze gechartet, in einem zweiten ein System zur Überwachung der See mit Hilfe von Drohnen installiert werden.
Am Jahrestag der Havarie eines Schlauchbootes am 24. November 2021 richteten Hinterbliebene einen offenen Brief an den britischen Premierminister Rishi Sunak. Sie fordern Gerechtigkeit für die über 30 Opfer, von denen einige nicht einmal tot geborgen werden konnten. Die Familien von neunzehn der Opfer benennen die Verantwortung beider Staaten für das letztlich tödliche Ausbleiben eines Rettungseinsatzes und verlangen eine transparente Aufklärung des Geschehens. Nicht zuletzt fordern sie eine grundlegende Veränderung der Politik gegenüber den Bootsflüchtlingen, die Schaffung sicherer Routen und ein Ende der antimigrantischen Rhetorik der politischen Führung Großbritanniens. Wir dokumentieren den von zivilgesellschaftlichen Akteur_innen mitunterzeichneten Brief in der von Care4Calais veröffentlichten Form:
Nahe der britisch-französischen Seegrenze havarierte am 24. November 2021 ein Schlauchboot, das mit über dreißig Passagier_innen nahe Dunkerque in See gestochen war. Bis auf zwei Überlebende ertranken alle, und zwar trotz abgesetzter Notrufe. Es war die bislang schlimmste Katastrophe dieser Art im Ärmelkanal. Bald nach der Havarie berichteten die beiden Überlebenden, dass die alarmierten Leitstellen in Frankreich und Großbritannien aufeinander verwiesen hätten, statt einen Rettungeinsatz zu veranlassen (siehe hier). Die meisten Opfer starben in der dadurch verstrichenen Zeitspanne, bevor schließlich ein Fischer die im Wasser treibenden Leichen entdeckte. Das Versagen der zuständigen Dienste steht inzwischen außer Frage. Es ist Gegenstand juristischer Untersuchungen und journalistischer Recherchen (etwa in Le Monde) und es ist damit zu rechnen, dass im Umfeld des Jahrestags weitere Details publik werden – wir werden daher zu einem späteren Zeitpunkt auf diesen Punkt zurückkommen. Zunächst möchten wir anhand einiger Eckdaten skizzieren, wie sich die Bootspassagen seit der Katastrophe entwickelt und verändert haben.