Seit 2020 galt in Calais fast ununterbrochen ein Verbot kostenloser Wasser- und Nahrungsverteilungen an Exilierte, sofern diese Hilfe in bestimmten Teilen der Stadt und ohne staatlichen Auftrag erfolgte. Faktisch war es unabhängigen Organisationen damit untersagt, lebenswichtige Hilfe dort zu leisten, wo sie gebraucht wird: bei den Camps. Eine Klage der betroffenen Organisationen hatte nun Erfolg: Das Verwaltungsgericht in Lille hob die Verbotsverfügungen der Präfektur auf. Die Solidaritätsbewegung hat auf einem wichtigen juristischen Konfliktfeld damit einen Sieg errungen.
Autor: tm
Riskante Zeit
Ungefähr 37.000 Menschen haben seit Beginn dieses Jahres den Ärmelkanal in kleinen Booten durchquert. Trotz der sinkenden Temperaturen und der schwieriger werdenden Verhältnisse auf See ist die Zahl der täglichen Überfahrten nach wie vor hoch. Mit dem Beginn der kalten Jahreszeit sind die Passagen jedoch riskanter geworden und die Zahl der Havarien nimmt zu.
Rede einer Besessenen
Seit dem 6. September 2022 amtiert die frühere Generalstaatsanwältin Suella Braverman als Innenministerin der Regierung Truss. Bereits während ihrer Kandidatur für den Vorsitz der Konservativen Partei hatte sie angekündigt, sie werde die Bootspassagen im Ärmelkanal stärker bekämpfen, das Abkommen mit Ruanda umsetzen und rechtliche Hindernisse ausräumen. In ihrer Grundsatzrede auf dem Parteitag der Tories in Birmingham am 4. Oktober 2022 machte sie nun erneut deutlich, dass die Bekämpfung der Kanalroute eines ihrer zentralen politischen Ziele ist. Wie genau, bleibt noch unklar. Aber während ihrer Amtszeit könnten Angriffe auf rechtstaatliche Normen zum Mittel der Wahl werden.
Die Bootspassagen nach Großbritannien sind nicht nur im realen Küsten- und Seegebiet ein Konfliktfeld, sondern auch im virtuellen Raum. Momentan investiert das britische Regierung in eine mehrsprachige Social Media-Kampagne, um potenzielle Migrant_innen abzuschrecken. Zugleich wurde bekannt, dass kommerzielle Schleuser_innen auf albanischsprachigen Sozial Media-Kanälen intensiv für Bootspassagen werben; zugleich nimmt der Anteil albanischer Exilierter an den Bootspassagieren zu. Konservative und rechtspopulistische Akteur_innen greifen das Phänomen auf, um die Bootspassagen mit organisierter Kriminalität gleichzusetzen und eine moral panic zu befeuern.
Zum Scheitern der Schnell-Abschiebungen nach Albanien
Wenn konservative Politiker_innen gegen die Bootspassagen im Ärmelkanal argumentieren, suggerieren sie gern, diese seien illegal. Rechtlich ist diese Behauptung unzutreffend. Vor einigen Tagen hat auch die britische Regierung eingeräumt, dass Bootspassagen von Asylbewerber_innen legal sind. Hintergrund dieses Eingeständnisses ist ein Versuch des britischen Innenministeriums, die Abschiebung albanischer Bootspassagier_innen zu beschleunigen, nachdem ihr Anteil an den Channel migrants in diesem Jahr zugenommen hat (siehe hier). Dieser Versuch ist nun weitgehend gescheitert.
Über 1.700 Räumungen in diesem Jahr?
Bereits jetzt haben in Calais und Umgebung im laufenden Jahr mehr Räumungen informeller Lebensorte stattgefunden als je zuvor (siehe hier und hier). Bis zum Jahresende könnte ihre Zahl auf über 1.700 ansteigen; sie würde dann um 42 % höher liegen als im Vorjahr. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Prognose von Human Rights Observers (HRO).
Als das britische Verteidigungsministerium am 12. September 2022 die Ankunft von 19 small boats mit 601 Exilierten im britischen Hoheitsgebiet registrierte, erreichte die Anzahl der Channel crossings in diesem Jahr 28.592 und überstieg damit den Wert des gesamten Vorjahres. Drei Tage später stieg die Zahl auf knapp 30.000 Personen. Wie bereits in den Jahren seit 2018, hat sich Anzahl der geglückten Bootspassagen ein weiteres Mal gegenüber dem Vorjahreszeitraum verdoppelt. Währenddessen hat mit Suella Braverman eine neue britische Innenministerin die Amtsgeschäfte aufgenommen, die ernsthaft eine Reduzierung der Überfahrten auf Null propagiert.
Antimigrantische Zwecklandschaft
Erneut blockierte die Stadtverwaltung von Calais einen informellen Lebensort von Gefüchteten am Quai du Danube auf brachiale Weise. Schwere Felsklötze wurden am 13. September 2022 großflächig auf dem Areal verteilt, sodass es nicht mehr möglich ist, sich dort in Zelten niederzulassen. Das Gelände befindet sich in der Innenstadt von Calais und war in den vergangenen Wochen einem schrittweise verstärkten Druck ausgesetzt.
Zwei Personen, die im Zuge der jüngsten Gewaltakte im Jungle von Loon-Plage schwer verletzt wurden, haben ihr Leben verloren. Wie die Zeitung La Voix du Nord berichtet, handelt es sich um einen der beiden Männer, die bei einer mutmaßlichen Racheaktion im Jungle von Loon-Plage schwer verletzt wurden, sowie um einen Mann, der dort auf offener Straße niedergeschossen wurde. Währenddessen räumten die Behörden den Jungle ein weiteres Mal.
Die gewaltsame Eskalation im Jungle von Loon-Plage westlich bei Dunkerque, in deren Verlauf am 30. August 2022 neun sudanische Bewohner durch Schusswaffen verletzt wurden, setzt sich fort. Lokalen Medien zufolge wurden am 6./7. September drei weitere Personen schwer verletzt und es ist fraglich, ob sie überleben werden. Zwei der Opfer stammen aus dem Sudan und eines aus Kurdistan. Die Presse vergleicht den modus operandi der Taten mit Hinrichtungen. Wir versuchen eine erste Rekonstruktion der Ereignisse auf Basis der lokalen Berichterstattung.