Wie wir an dieser Stelle bereits berichteten, starb am 19. November ein junger Sudanese auf der Autobahn A 16 bei Calais (siehe hier). Inzwischen ist bekannt, dass es sich um Mohamed Khamisse Zakaria handelt. Weggefährten von ihm haben einen Nachruf veröffentlicht, den wir in deutscher Übersetzung dokumentieren.
Kategorie: Calais
Erneute Räumung in Calais
Wie die Zeitung La Voix du Nord am 27. November 2020 berichtete, wurde am gleichen Tag um 6:30 Uhr erneut ein Camp in Calais geräumt. Betroffen war wieder das Gebiet um die Calypso-Halle, wo bereits mehrfach Räumungen stattgefunden hatten (siehe hier). Im Juli lebten dort nach Aussage zivilgesellschaftlicher Hilfsorganisationen etwa 300 Migrant_innen, aktuell ca. 100 Personen. Es handelt sich um den Typus von Räumungen, bei denen Bewohner_innen oftmals gegen ihren Willen in Unterbringungszentren (CAES) außerhalb der Stadt gebracht werden. Nach Angaben der Präfektur wurde am 27. November 81 Personen in solche Einrichtungen im Departement Pas-de-Calais gebracht. Die Räumungen gehen also nach wie vor weiter. Die letzte größere Operation dieser Art hatte am 13. November stattgefunden (siehe hier).
Am 11. November gegen 15:00 eskaliert ein Polizeieinsatz auf dem Camp am BMX-Gelände in Calais [1]. Ein CRS-Beamter schießt einem Eritreer mit einem Gummigeschoss ins Gesicht und verletzt ihn schwer. Die Polizei behindert den Transport des Schwerverletzten, der auch noch eine Woche später im Krankenhaus behandelt werden muss, wo er nach wie vor nicht ansprechbar ist, und sein Zustand als kritisch eingeschätzt wird. Die Eritreer_innen in Calais wenden sich mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit.
Der 297. Tote
[Update vom 21.11.2020] Wie die Präfektur mitteilte und verschiedene französische Medien berichteten, ist am gestrigen 19. November 2020 erneut ein Geflüchteter während der Transitmigration nach Großbritannien gestorben. Das Unglück ereignete sich auf der Küstenautobahn A 16 in der Nähe des Kanaltunnels. Der junge Mann von Anfang zwanzig wurde dort von einem Auto angefahren und schwer verletzt ins Krankenhaus von Calais eingeliefert, wo er kurz darauf starb. Über die Identität und Biographie des Opfers ist bislang lediglich bekannt, dass er aus dem Sudan kam.
[Mit einen Update zum Prozessverlauf 2021]
Eine der größten Räumungsoperationen gegen die Calaiser Camps hat juristische Folgen: Elf betroffene Personen haben mit Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen eine Klage gegen den Präfekten des Pas-de-Calais eingereicht. Sie bezieht sich auf eine Räumung des Hospital Jungle in der Nähe des Calaiser Krankenhauses am 29. September 2020 und in den folgenden Tagen, die als eine der größten Polizeiaktionen dieser Art seit 2016 gilt (siehe hier, hier, hier und hier). Wir dokumentieren hier die Erklärung der acht Organisationen mit einer Aussage eines betroffenen Mannes. Das französischsprachige Original der Erklärung wurde am 5. November auf dem Blog Passeurs d’hospitalités veröffentlicht.
Räumung bei Coquelles
Coquelles ist eine kleine Landgemeinde westlich von Calais, deren Gebiet zu weiten Teilen von den Betriebsanlagen des Kanaltunnels und den zugehörigen Verkehrsinfrastrukturen in Anspruch genommen wird. Infolge der Räumungswellen in Calais im Sommer dieses Jahres siedelte ein Teil der Migrant_innen dorthin über. Im Schatten der zahlreichen Bootspassagen über den Ärmelkanal mehren sich die Versuche, dort ein Versteck in einem Lastwagen mit dem Ziel Großbritannien zu finden. Am 13. November 2020 fand nun nahe der Gemeindegrenze Calais‘ zu Coquelle eine groß angelegte Räumung statt. Es war die erste Operation dieser Größenordnung seit dem Beginn des zweiten Confinement (siehe hier).
Als Reaktion auf die zweite Welle der Corona-Pandemie etablierte die französische Regierung im Oktober 2020 schrittweise einen neuen Lockdown. Die im Französischen als confinement bekannte Maßnahme umfasst im Kern eine Kontakt- und Ausgangssperre, die zunächst für die am stärksten betroffenen Regionen während der Nacht verhängt, am 30. Oktober dann auf das gesamte Land und die gesamte Tagesdauer ausgeweitet wurde. Die Maßnahme ähnelt dem ersten Confinement von März bis Juni 2020. Für einen Teil der in prekären Camps lebenden Menschen eröffnete die Seuche damals eine Möglichkeit, vorübergehend und freiwillig in eine feste Unterkunft wechseln zu können. Für die meisten jedoch verschärfte das Confinement die Lebensbedingungen in den Camps, auch weil elementare Versorgungsstrukturen, darunter die Verteilung warmer Mahlzeiten und der Zugang zu Trinkwasser, ganz oder teilweise wegbrachen. Gleichzeitig hielten die Räumungen und Gewaltakte durch Polizeikräfte unvermindert an oder nahmen sogar noch zu. Wir haben diese multiple Krise auf diesem Blog umfassend dokumentiert (siehe die Beiträge unter der Kategorie: Corona). In diesem und einigen folgenden Beiträgen wird es nun um die Zeit des zweiten Confimenent gehen – hier zunächst ein Überblick.
Jonathan Becker verbrachte den Sommer als Freiwilliger in Calais und Dunkerque. Sein Rückblick liest sich wie eine Chronik dieses Jahres mit all seinen Zuspitzungen. Ein Interview.
Das Ertrinken von Shiva Mohammad Panahi, Rasul Iran Nezhad, ihrer Kinder Artin, Armin und Anita sowie zweier weiterer Menschen vor Loon-Plage am 27. Oktober 2020 (siehe hier und hier) war das bislang schlimmste Unglück während einer migrantischen Bootspassagen nach Großbritannien. Mit ihrem Tod stieg die Zahl der Menschen, die durch das kontinentaleuropäisch-britische Grenzregime ihr Leben verloren haben (und von denen wir dies wissen) auf beinahe 300. In keiner anderen Grenzregion im Inneren Europas gab es nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Eisernen Vorhangs so viele Grenztote wie in der Region rund um den Ärmelkanal. Trotz der räumlichen Nähe ist diese Tatsache kaum je in das Bewußtsein der kritischen Öffentlichkeit in Deutschland gerückt. Daher hier ein Überblick.
Wieder Räumung eines Calaiser Camps
Nach den zahlreichen Polizeioperationen der vergangenen Monate ist am 22. Oktober 2020 ein weiteres Camp mit dem Ziel geräumt worden, die Bewohner_innen dauerhaft von dem Gelände zu verbannen. Betroffen war diesmal ein Camp im Stadtteil Beau Marais, das unter dem Namen Unicorn Jungle bekannt war und an dem seit einigen Wochen rund 300 Exilierte gelebt hatten.