Im Schatten der rechtlichen Auseinandersetzungen um den britisch-ruandischen Migrationsdeal hat die Organisation Human Rights Observers (HRO) auf einem anderen Feld einen juristischen Erfolg errungen. Dabei ging es um die Frage, ob die während der Corona-Pandemie massenhaft gegen ihre Mitglieder ausgesprochenen Verwarnungen rechtmäßig waren. Die Behörden hatten während der pandemiebedingten Lockdowns immer wieder Angehörige zivilgesellschaftlicher Organisationen mit Bußgeldern belegt, die Räumungen der Camps beobachtet oder andere menschenrechtspolitische und humanitäre Arbeit geleistet hatten. Das zuständige Gericht in Boulogne-sur-Mer gab nun zwei Betroffenen recht, die diese Praxis angefechtet hatten.
Kategorie: Corona
Kurz vor dem Ende der Brexit-Übergangsphase hat die Entwicklung der Corona-Pandemie in Großbritannien überraschend zu einer weitgehenden Schließung der britischen Grenze für den (legalen) Personenverkehr zwischen dem europäischen Festland und den britischen Inseln geführt. Auch Frankreich hat den Grenzverkehr für Personen (zunächst) für zwei Tage, den 21. und 22. Dezember, unterbrochen. Das kontinentaleuropäisch-britische Grenzregime steht damit im Kontext einer multiplen Krise: Versorgungsengpässe und Überlastungen der Verkehrsinfrastrukturen aufgrund des Brexit fallen zeitlich mit einer katastrophischen Dynamik des Seuchengeschehens zusammen; der disruptive Abbruch der Verkehrsflüsse trifft auf eine politisch skandalisierte Migration. Diese wiederum scheint sich momentan von den Bootspassagen wieder stärker zum Frachtverkehr zu verlagern, worauf die französischen Behörden vor allem gewaltsam reagieren. Es ist noch zu früh, um diese Dynamiken präzise beschreiben zu können. Aber es gibt einen Indikator, der zumindest eine vorläufige Skizze erlaubt: Staumeldungen.
Als Reaktion auf die zweite Welle der Corona-Pandemie etablierte die französische Regierung im Oktober 2020 schrittweise einen neuen Lockdown. Die im Französischen als confinement bekannte Maßnahme umfasst im Kern eine Kontakt- und Ausgangssperre, die zunächst für die am stärksten betroffenen Regionen während der Nacht verhängt, am 30. Oktober dann auf das gesamte Land und die gesamte Tagesdauer ausgeweitet wurde. Die Maßnahme ähnelt dem ersten Confinement von März bis Juni 2020. Für einen Teil der in prekären Camps lebenden Menschen eröffnete die Seuche damals eine Möglichkeit, vorübergehend und freiwillig in eine feste Unterkunft wechseln zu können. Für die meisten jedoch verschärfte das Confinement die Lebensbedingungen in den Camps, auch weil elementare Versorgungsstrukturen, darunter die Verteilung warmer Mahlzeiten und der Zugang zu Trinkwasser, ganz oder teilweise wegbrachen. Gleichzeitig hielten die Räumungen und Gewaltakte durch Polizeikräfte unvermindert an oder nahmen sogar noch zu. Wir haben diese multiple Krise auf diesem Blog umfassend dokumentiert (siehe die Beiträge unter der Kategorie: Corona). In diesem und einigen folgenden Beiträgen wird es nun um die Zeit des zweiten Confimenent gehen – hier zunächst ein Überblick.
Voyez ci-dessous pour la version française
von Philippe Wannesson (Übersetzung: Bettina Henn)
Die Migrant_innen befanden sich in einer Situation dreifacher Verwundbarkeit anlässlich der möglicherweise ersten Welle der Corona-Epidemie: Verwundbarkeit aufgrund ihrer Situation, Verwundbarkeit aufgrund der inkohärenten Maßnahmen des Staates angesichts der Epidemie, Verwundbarkeit aufgrund des offenbaren Willens des Staates nichts oder nur ein Minimum zu verändern und aufgrund der Politik der Abschreckung ihnen gegenüber. Als diese Politik in Angriff genommen wurde, war es der Justiz möglich, widersprüchliche Urteile zu fällen. Um die Situation noch komplizierter zu machen, konnten die ergriffenen Maßnahmen von einer Präfektur zur andern noch variieren. Betrachten wir stellvertretend einige typische Situationen.
Die anhaltende Räumungswelle erzeugt eine Extremsituation, während sich eine zweite Welle der Corona-Pandemie abzeichnet
Während sich die öffentliche Gesundheitsfürsorge in den Departements Pas-de-Calais und Nord auf die zweite Welle der Corona-Seuche vorbereitet, zerstörte eine weitere Räumung den prekären Ort, an dem ein Großteil der Menschen aus dem drei Wochen zuvor zerstörten Jungle inzwischen lebte. Dieser Ort war der Dubrulle-Wald, eine etwa 200 mal 350 Meter große Waldparzelle am Rand des Industriegebiets Zone des Dunes, in der seit den ausgehenden 1990er Jahren immer wieder informelle Camps entstanden waren. Die Zerstörung des Jungle und die Räumung des Waldes (sowie eines weiteren Camps am gleichen Tag) verschärften die inhumane Situation der Migrant_innen ein weiteres Mal – und ließen viele von ihnen in das Zentrum der Stadt zurückkehren, aus dem man sie während der vergangenen Jahre systematisch verdrängt hatte.
Der Jungle nach dem Lockdown
Kurz vor Beginn des Lockdown recherchierten wir in Calais. Nachdem wir nun, am 6. Juni 2020, erneut dort waren, ergibt sich ein vorläufiges Bild von den Veränderungen, die der Jungle im Verlauf der (vielleicht nur ersten) Seuchenwelle erlebt hat. Diese Veränderungen aber resultieren in erster Linie nicht aus der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung. Zwar haben sich die ohnehin prekären Lebensbedingungen in den Camps während des Lockdown weiter verschlechtert und sind elementare Versorgungsstrukturen zum Teil weggebrochen. Eine viel zitierte „Neue Normalität“ aber gibt es im Jungle nicht. Vielmehr entspricht die Situation beim Abklingen der Seuche sehr genau dem vorherigen Zustand und den damals bereits erkennbaren Tendenzen.
Zu Beginn des Lockdown hatte die Refugee Community Kitchen, eine zivilgesellschaftliche Initiative zur Versorgung der Migrant_innen mit warmen Mahlzeiten, ihre Arbeit in Calais eingestellt. Kurz darauf beendete auch die im staatlichen Auftrag arbeitende Organisation La vie active die Ausgabe warmer Mahlzeiten und ersetzte sie durch Lunchpakete. Dieser Wegfall einer elementaren Versorgungsstruktur war ein Hauptgrund für die Verschlechterung der ohnehin prekären Lebensverhältnisse während der Pandemie. Um eine Hungerkrise abzuwenden, verteilten zivilgesellschaftliche Initiativen daraufhin Lebensmittel und Brennholz zum Kochen an die Bewohner_innen des Jungle und der übrigen Camps. Nachdem die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nun gelockert wurden, wird die Refugee Community Kitchen ihre Arbeit wieder aufnehmen. Anfang Juni begannen technische Vorbereitungen. Die Ausgabe der Mahlzeiten soll in den kommenden Tagen beginnen.
Deutsche Fassung
Maya Konforti von L‘Auberge des Migrants ist in Calais und Grande-Synthe seit 2014 aktiv. In diesem Interview reflektiert sie die jüngste Entwicklung und analysiert den aktuellen Stand der Evakuierungen, des Confinement (französische Corona-Schutzmaßnahmen), der Polizeigewalt und der Bootspassagen. Wir veröffentlichen den inhaltlich sehr dichten Text auf diesem Blog als Longread-Format.
English version
Maya Konforti of L´Auberge des Migrants has been on the ground in Calais and Grande- Synthe since 2014. In this interview she reflects the recent development and analyzes the current state of evictions, confinement, police violence and boat crossings. This is the closest so far we have come to a longread on this blog. German version will follow.