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Channel crossings & UK

Großbritanniens Mittelmeer, Europas Ärmelkanal

Statement der Band Asian Dub Foundation zur europäischen Grenzpolitik, 1. Januar 2022. (Quelle: Asian Dub Foundation / Twitter)

Im Laufe des Jahres 2021 haben insgesamt 28.431 Männer, Frauen und Kinder den Ärmelkanal in unsicheren Booten durchquert. Diese Gesamtzahl wurde am heutigen 1. Januar 2022 bekannt. Für 28.431 Menschen bedeutete dies, einer Situation existenzieller Unsicherheit ausgesetzt zu sein und mit der Möglichkeit des eigenen Todes rechnen zu müssen, statt einen angemessenen Weg nach Großbritannien nehmen zu können: die Fähre oder den Eurostar. Der Nexus von Migrationspolitik und Tod ist auf Kanalroute noch nie so sichtbar geworden wie in den vergangenen Monaten, als wiederholt Menschen auf See verschwanden, Leichen an die nordfranzösische Küste gespült wurden und am 24. November schließlich mindestens 27 Passagier_innen eines Schlauchboots ertranken. Währenddessen hat die Dynamik der Kanalroute stärker zugenommen, als es zu erwarten gewesen wäre: Die Zunahme erfolgreicher Bootspassagen gegenüber dem Vorjahr, als rund 8.500 Channel crossers britisches Hoheitsgebiet erreichten, beträgt 337 %. Auch der Stellenwert dieser Route innerhalb des europäischen und globalen Migrationsgeschehens hat sich verändert.

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Calais Channel crossings & UK Dunkerque & Grande-Synthe

Frontex in Calais (2)

Tweet von Frontex: Verhindern, dass sich Menschen in Lebensgefahr begeben? (Quelle: Frontex / Twitter)

Eines der wenigen konkreten Ergebnisse des europäischen Ministertreffens nach der verheerenden Havarie vom 24. November war die Entsendung eines militärischen Aufklärungsflugzeugs der europäische Grenzschutzagentur Frontex nach Lille mit dem Auftrag, die Küste vor der Calaiser Region zu überwachen. Ob die ersten Einsätze Symbolpolitik waren, aufgrund der kurzfristigen Verlegung ohne ausreichende Kenntnis des modus operandi der Bootspassagen erfolgten oder der Vorbereitung späterer Einsätze dienten, bleibt spekulativ.

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Channel crossings & UK

„The British police didn’t help us“ (3)

[Udpated, 26. Dezember 2021] Um die Umstände des Todes von mindestens 27 Exilierten bei der Havarie am 24. November aufzuklären, hat Utopia 56 nun mehrere zuständige französische und britische Beamt_innen vor dem Gerichtshof (Tribunal judiciaire) von Paris verklagt. Wie die Organisation am 20. Dezember mitteilte, richtet sich die Klage gegen den Seepräfekten für den Ärmelkanal und die Nordsee, Philippe Dutrieux, den Direktor der französischen Rettungsleitstelle CROSS Griz Nez, Marc Bonnafous, die Direktorin der britischen Küstenwache, Claire Hughes, sowie mögliche andere „Täter, Mittäter oder Komplizen“. Ausgangspunkt der Klage sind die durch Flugdaten eines britischen Rettungshubschraubers gestützten Aussagen der beiden Überlebenden der Havarie, dass wiederholt abgesetzte Notrufe stundenlang nicht zu einem Rettungseinsatz führten und sich die zuständigen Stellen gegenseitig die Verantwortung zugeschoben hätten (siehe ausführlich hier und hier).

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Calais

Zwei Tote in Marck

Gedenkfeier in Calais, 21. Dezember 2021. (Foto: Utopia 56)

In den vergangenen Tagen starb nicht nur ein Lastwagenfahrer nach einem Konflikt mit Exilierten, wovon unser voriger Beitrag handelt. Am gleichen Tag wurde in der Gemeinde Marck bei Calais die Leiche eines Menschen angespült – vermutlich ein Geflüchteter, der im Ärmelkanal ertrunken ist. In der folgenden Nacht verunglückte ebenfalls in Marck ein Jugendlicher tödlich beim Versuch, sich in einem Lastwagen mit dem Fahrtziel Großbritannien zu verstecken.

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Channel crossings & UK

Ein Wendepunkt? Bootspassagen nach der Havarie

Als die Kanalroute nach dem Tod von mindestens 27 Menschen eine Weile in den medialen Fokus rückte, wurde viel darüber spekuliert, ob die Katastrophe wohl einen Wendepunkt markiere. In der Tat sank die Zahl der Bootspassagen nach dem 24. November – dem Tag der Katastrophe, an dem knapp 800 Exilierte den Ärmelkanal überquert hatten –, praktisch auf Null. Der Grund dafür war allerdings schlechtes Wetter, das eine Bootspassage unmöglich machte. In nervöser Stimmung warteten rechte Akteure wie Nigel Farage auf den Tag, an dem sich das Wetter beruhigen würde, und stilisierten ihn zu einer Art Probe aufs Exempel: Ob Frankreich dann wohl willens oder in der Lage sei, weitere Bootspassagen zu unterbinden? Nun hat sich das Wetter beruhigt und über 900 Menschen durchquerten den Ärmelkanal am 16. und 17. Dezember in behelfsmäßigen Booten. Statt einer imaginierten Wende wird der Fortbestand des Status quo sichtbar.

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Dunkerque & Grande-Synthe

„Ein Schmutzfleck auf der europäischen Flagge“

Damien Carême war fast 20 Jahre lang der Bürgermeister von Grande-Synthe. In der Geografie der Transitmigration am Ärmelkanal ist diese Kleinstadt nahe des Hafens von Dunkerque seit Langem eine Konstante. Der frühere Sozialist wurde überregional bekannt, als er dort im Jahr 2016 ein humanitäres Camp errichten ließ – in Gegenmodell zum rein repressiven Konzept im benachbarten Calais.

Seit 2019 sitzt Carême als Abgeordneter der Grünen / EFA im EU- Parlament. Im Rahmen einer aktuellen Recherche in Calais und Dunkerque tauchte die Frage auf, wie Carême auf die derzeitige Situation am Kanal blickt. Anstelle des kurzen Statements, um das wir ihn baten, schickte er eine detaillierte Analyse der Lage, die wir im Folgenden übersetzt veröffentlichen.  

Damien Carême (Foto: EU- Parlament)
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Channel crossings & UK

Identifizierung der Opfer der Havarie

[Updated, 19. Dezember 2021]

Drei Wochen nach der tödlichen Havarie ist mehr über die Identität der Opfer bekannt. Wie die Pariser Staatsanwaltschaft am 14. Dezember 2021 mitteilte, konnten 26 der 27 tot geborgenen Personen identifiziert werden. Kurz darauf konnte auch die Identität der letzten Person geklärt werden. Demnach waren 16 der Todesopfer Kurd_innen aus dem Irak, vier kamen aus Afghanistan, drei aus Äthiopien und je eine Person aus Somalia, Ägypten, Vietnam und dem kurdischen Teil des Iran. Die jüngsten Opfer waren ein 7jähriges Mädchen und 16jähriger Junge, beide aus dem kurdischen Teil des Irak, die beiden ältesten ein 46jähriger Mann aus Äthiopien und eine gleichaltrige Frau aus dem Nordirak. Insgesamt sieben der erwachsenen Opfer waren Frauen und 18 Männer.

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Calais

Fischer finden einen Toten

Die Bestzung des Fischerbootes Johanna entdeckte am frühen Nachmittag des 10. Dezember 2021 vor der Küste von Calais einen Leichnam. Wie die Zeitungen La Voix du Nord und Nord Littoral übereinstimmend berichten, entdeckten die Fischer den Toten in ihrem Netz. Sie verständigten daraufhin das regionale Überwachungs- und Rettungszentrum CROSS Griz Nez und übergaben den Leichnam im Hafen von Calais an die Gendarmerie Maritime. Die Staatsanwaltschaft von Boulogne-sur-Mer leitete eine Untersuchung über die Todesursache ein. Der Körper soll sich bereits in einem Zutand fortgeschrittener Verwesung befunden haben. Ob es sich bei dem Toten um einen der im Ärmalkanal vermissten Exilierten handelt, ist noch unklar, kann aber vermutet werden. Mehrfach sind in den vergangenen Monaten Bootspassagiere als vermisst gemeldet worden. Neben der Havarie am 24. November, nach der die Leichen von 27 Menschen geborgen wurden (siehe hier und die folgenden Beiträge), haben sich seit August mehrere Havarien ereignet, nach denen Menschen vermisst wurden und mit hoher Wahrscheinlichkeit gestorben sind (siehe hier). Zivilgesellschaftliche Gruppen gedachten am Abend des 11. Dezember in Calais der Toten der Grenze.

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Channel crossings & UK Dunkerque & Grande-Synthe

Frontex in Calais: Symbolpolitik statt Seenotrettung?

In der Politik gegenüber den Exilierten in Calais und der Region ist nach dem Ende des Hungerstreiks vor drei Wochen und des Schiffsunglücks mit mindestens 27 Toten vor gut zehn Tagen keinerlei Kurswechsel erkennbar. Der Einsatz des von Frontex bereitgestellten Aufklärungsflugzeugs scheint – bei aller Unsicherheit, die langfristige Strategie aus bisher zwei Einsätzen abzuleiten – vor allem der Symbolpolitik zu dienen.

Screenshot aus ads-b.nl für den Flug vom 3. Dezember 2021.
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Calais Channel crossings & UK

„The British police didn’t help us“ (2)

Abb. 1: Flugstrecke des Hubschraubers G-MCGU der britischen Küstenwache am frühen Morgen 24. November 2021 (orange). Das Zentrum des Suchgebiets lag nördlich der Seegrenze (violett) im britischen Hoheitsgebiet.

Weitere Indizien unterstreichen die Vermutung, dass sich die Havarie, bei der am 24. November 2021 mindestens 27 Menschen starben, im britischen Hoheitsbereich ereignet hat. Die beiden Überlebenden sowie Angehörige von Opfern hatten dies übereinstimmend gegenüber der kurdischen Mediengruppe Rustaw berichtet. Außerdem hatten die Überlebenden geschildert, dass die telefonisch alarmierten Küstenwachen beider Staaten wechselseitig behauptet hätten, das Boot befände sich im jeweils anderen Hoheitsgebiet – mit dem Ergebnis, dass keine Rettung erfolgte, bis ein Fischer die im Wasser treibenden Leichen entdeckte (siehe hier). Darüber hinaus wurde nun die Aussage eines Geflüchteten publik, der wenige Tage vor der Havarie eine ähnlich kafkaeske Situation erlebt hatte. Das offensichtliche Versagen der britischen Küstenwache könnte also kein Einzelfall gewesen sein.