Als die Kanalroute nach dem Tod von mindestens 27 Menschen eine Weile in den medialen Fokus rückte, wurde viel darüber spekuliert, ob die Katastrophe wohl einen Wendepunkt markiere. In der Tat sank die Zahl der Bootspassagen nach dem 24. November – dem Tag der Katastrophe, an dem knapp 800 Exilierte den Ärmelkanal überquert hatten –, praktisch auf Null. Der Grund dafür war allerdings schlechtes Wetter, das eine Bootspassage unmöglich machte. In nervöser Stimmung warteten rechte Akteure wie Nigel Farage auf den Tag, an dem sich das Wetter beruhigen würde, und stilisierten ihn zu einer Art Probe aufs Exempel: Ob Frankreich dann wohl willens oder in der Lage sei, weitere Bootspassagen zu unterbinden? Nun hat sich das Wetter beruhigt und über 900 Menschen durchquerten den Ärmelkanal am 16. und 17. Dezember in behelfsmäßigen Booten. Statt einer imaginierten Wende wird der Fortbestand des Status quo sichtbar.
Schlagwort: Ärmelkanal
Damien Carême war fast 20 Jahre lang der Bürgermeister von Grande-Synthe. In der Geografie der Transitmigration am Ärmelkanal ist diese Kleinstadt nahe des Hafens von Dunkerque seit Langem eine Konstante. Der frühere Sozialist wurde überregional bekannt, als er dort im Jahr 2016 ein humanitäres Camp errichten ließ – in Gegenmodell zum rein repressiven Konzept im benachbarten Calais.
Seit 2019 sitzt Carême als Abgeordneter der Grünen / EFA im EU- Parlament. Im Rahmen einer aktuellen Recherche in Calais und Dunkerque tauchte die Frage auf, wie Carême auf die derzeitige Situation am Kanal blickt. Anstelle des kurzen Statements, um das wir ihn baten, schickte er eine detaillierte Analyse der Lage, die wir im Folgenden übersetzt veröffentlichen.
[Updated, 19. Dezember 2021]
Drei Wochen nach der tödlichen Havarie ist mehr über die Identität der Opfer bekannt. Wie die Pariser Staatsanwaltschaft am 14. Dezember 2021 mitteilte, konnten 26 der 27 tot geborgenen Personen identifiziert werden. Kurz darauf konnte auch die Identität der letzten Person geklärt werden. Demnach waren 16 der Todesopfer Kurd_innen aus dem Irak, vier kamen aus Afghanistan, drei aus Äthiopien und je eine Person aus Somalia, Ägypten, Vietnam und dem kurdischen Teil des Iran. Die jüngsten Opfer waren ein 7jähriges Mädchen und 16jähriger Junge, beide aus dem kurdischen Teil des Irak, die beiden ältesten ein 46jähriger Mann aus Äthiopien und eine gleichaltrige Frau aus dem Nordirak. Insgesamt sieben der erwachsenen Opfer waren Frauen und 18 Männer.
Fischer finden einen Toten
Die Bestzung des Fischerbootes Johanna entdeckte am frühen Nachmittag des 10. Dezember 2021 vor der Küste von Calais einen Leichnam. Wie die Zeitungen La Voix du Nord und Nord Littoral übereinstimmend berichten, entdeckten die Fischer den Toten in ihrem Netz. Sie verständigten daraufhin das regionale Überwachungs- und Rettungszentrum CROSS Griz Nez und übergaben den Leichnam im Hafen von Calais an die Gendarmerie Maritime. Die Staatsanwaltschaft von Boulogne-sur-Mer leitete eine Untersuchung über die Todesursache ein. Der Körper soll sich bereits in einem Zutand fortgeschrittener Verwesung befunden haben. Ob es sich bei dem Toten um einen der im Ärmalkanal vermissten Exilierten handelt, ist noch unklar, kann aber vermutet werden. Mehrfach sind in den vergangenen Monaten Bootspassagiere als vermisst gemeldet worden. Neben der Havarie am 24. November, nach der die Leichen von 27 Menschen geborgen wurden (siehe hier und die folgenden Beiträge), haben sich seit August mehrere Havarien ereignet, nach denen Menschen vermisst wurden und mit hoher Wahrscheinlichkeit gestorben sind (siehe hier). Zivilgesellschaftliche Gruppen gedachten am Abend des 11. Dezember in Calais der Toten der Grenze.
In der Politik gegenüber den Exilierten in Calais und der Region ist nach dem Ende des Hungerstreiks vor drei Wochen und des Schiffsunglücks mit mindestens 27 Toten vor gut zehn Tagen keinerlei Kurswechsel erkennbar. Der Einsatz des von Frontex bereitgestellten Aufklärungsflugzeugs scheint – bei aller Unsicherheit, die langfristige Strategie aus bisher zwei Einsätzen abzuleiten – vor allem der Symbolpolitik zu dienen.
Weitere Indizien unterstreichen die Vermutung, dass sich die Havarie, bei der am 24. November 2021 mindestens 27 Menschen starben, im britischen Hoheitsbereich ereignet hat. Die beiden Überlebenden sowie Angehörige von Opfern hatten dies übereinstimmend gegenüber der kurdischen Mediengruppe Rustaw berichtet. Außerdem hatten die Überlebenden geschildert, dass die telefonisch alarmierten Küstenwachen beider Staaten wechselseitig behauptet hätten, das Boot befände sich im jeweils anderen Hoheitsgebiet – mit dem Ergebnis, dass keine Rettung erfolgte, bis ein Fischer die im Wasser treibenden Leichen entdeckte (siehe hier). Darüber hinaus wurde nun die Aussage eines Geflüchteten publik, der wenige Tage vor der Havarie eine ähnlich kafkaeske Situation erlebt hatte. Das offensichtliche Versagen der britischen Küstenwache könnte also kein Einzelfall gewesen sein.
Nach dem verheerenden Bootsunglück auf dem Ärmelkanal vor einer Woche dominieren gegenseitige Schuldzuweisungen die politische Aufarbeitung in Frankreich und Großbritannien. Die von EU und Großbritannien als Reaktion jeweils auf den Weg gebrachten Maßnahmen bewegen sich im erwartbaren Rahmen und dürften kaum dazu beitragen, Menschenleben zu retten. Der politische Druck aus der Zivilgesellschaft nimmt jedoch zu und zeigt erste Auswirkungen.
Eine Woche nach der tödlichen Havarie am 24. November 2021 vor Calais (siehe hier, hier und hier) geben Recherchen des kurdischen Privatsenders Rudaw mit Sitz in Erbil ein detaillierteres Bild des Geschehens. Basierend auf Interviews mit den beiden Überlebenden und mit Angehörigen der Opfer wird deutlich: Die Passagier_innen setzten Notrufe an die französischen und britischen Küstenwachen ab, die jeweils auf die Zuständigkeit des anderen Landes verwiesen. So blieb jede Hilfe aus, bis schließlich französische Fischer mehr als zwölf Stunden, nachdem das Boot in Seenot geraten war, die im Wasser treibenden Leichen entdeckten. Die Recherchen legen außerdem nahe, dass sich das Boot bereits in britischen Hoheitsgewässern befand, als die Situation an Bord lebensbedrohlich war. Die britischen Behörden würden in diesem Fall eine Mitverantwortung für den Tod von mindestens 27 Menschen tragen.
Die britische Initiative Channel Rescue dokumentierte im September 2021 Trainings der Border Force für Pushbacks im Ärmelkanal (siehe hier). Tatsächlich durchgeführt wurden diese bislang, soweit bekannt, nicht. Am 24. November 2021 – dem Tag, an dem 27 Exilierte vor Calais ertranken – reichte Channel Rescue eine Klage gegen die britische Innenministerin Priti Patel mit dem Ziel ein, die Durchführung von Pushbacks zu verhindern. Finanziert wird die Klage durch Crowdfunding: Binnen weniger Tage sind bereits £ 25.000 der angestrebten £ 30.000 zusammengekommen. Neben Channel Rescue klagten noch zwei weitere Organisationen, nämlich Care4Calais und Freedom from Torture, gegen die Innenministerin, wobei die drei Klagen unterschiedliche rechtliche Ansatzpunkte wählen. Wir dokumentieren im Folgenden die Erklärung von Channel Rescue auf der Plattform cowdjustice. Interessierte, die zur Finanzierung beteiligen möchten, finden dort die nötigen Informationen.
Der Tod vor Calais (3)
Politischer Streit zwischen Frankreich und Großbritannien eskaliert
Die Regierungen in London und Paris hatten sich nach dem Tod von 27 Menschen zunächst bemüht, ihr Unstimmigkeiten in der Migrationspolitik in den Hintergrund zu stellen. Zwar gaben sich britische und französische Stellen gegenseitig die Schuld an dem Unglück, der britische Premierminister Boris Johnson und der französischen Präsidenten Emmanuel Macron waren sich nach Beratungen aber schnell einig, das verstärkte Anstrengungen unternommen werden müssten, um die Schleuser_innen zu stoppen. Dies fügt sich in die zu erwartende politische Rhetorik ein, Migration im Kontext der grenzüberschreitenden Kriminalität zu verhandeln, und ihr mit einer noch restriktiveren Fassung des Grenzregimes zu begegnen.