Nach dem verheerenden Bootsunglück auf dem Ärmelkanal vor einer Woche dominieren gegenseitige Schuldzuweisungen die politische Aufarbeitung in Frankreich und Großbritannien. Die von EU und Großbritannien als Reaktion jeweils auf den Weg gebrachten Maßnahmen bewegen sich im erwartbaren Rahmen und dürften kaum dazu beitragen, Menschenleben zu retten. Der politische Druck aus der Zivilgesellschaft nimmt jedoch zu und zeigt erste Auswirkungen.
Schlagwort: Grenztote
Der Tod vor Calais (3)
Politischer Streit zwischen Frankreich und Großbritannien eskaliert
Die Regierungen in London und Paris hatten sich nach dem Tod von 27 Menschen zunächst bemüht, ihr Unstimmigkeiten in der Migrationspolitik in den Hintergrund zu stellen. Zwar gaben sich britische und französische Stellen gegenseitig die Schuld an dem Unglück, der britische Premierminister Boris Johnson und der französischen Präsidenten Emmanuel Macron waren sich nach Beratungen aber schnell einig, das verstärkte Anstrengungen unternommen werden müssten, um die Schleuser_innen zu stoppen. Dies fügt sich in die zu erwartende politische Rhetorik ein, Migration im Kontext der grenzüberschreitenden Kriminalität zu verhandeln, und ihr mit einer noch restriktiveren Fassung des Grenzregimes zu begegnen.
Der Tod vor Calais (2)
Während der Tod von 27 Menschen im Ärmelkanal internationale Aufmerksamkeit erfährt, werden allmählich genauere Informationen über die Opfer bekannt. Demnach handelte es sich vor allem um irakische bzw. iranische Kurd_innen. Nach Angaben der französischen Behörden starben 17 Männer, sieben Frauen und drei Minderjährige; eine der Frauen war offenbar schwanger. In Sangatte bei Calais wurde außerdem die Leiche einer weiteren Person angespült, möglicherweise ebenfalls ein Geflüchteter, der bei einem früheren Passageversuch das Leben verloren haben könnte. Aber auch dies ist wie vieles andere momentan noch unklar. Hier eine weitere Überblick über die Situation einen Tag nach der Havarie.
Der Tod vor Calais

Die Informationen sind noch lückenhaft. Klar ist aber, dass sich am heutigen 24. November 2021 die bislang schlimmste Havarie auf der Kanalroute ereignet hat. Mindestens 31 Geflüchtete, so hieß es bis zum späten Abend, ertranken nördlich von Calais, mindestens eine weitere Person gilt als vermisst. [Update: Während der Nacht korrigierten die Behörden die Zahl auf 27 Todesopfer.]Während unter den lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Calais Trauer und Wut herrschen, reiste Innenminister Gérald Darmanin nach Calais. Die Regierungschefs Großbritanniens und Frankreichs beriefen Krisensitzungen ein. Hier eine Zusammenfassung der aktuell vorliegenden Meldungen.

[Update, 5. November, abends] Sowohl auf See, als auch auf dem Festland haben sich innerhalb von nur zwei Tagen mehrere Todesfälle ereignet. Mindestens drei Exilierte verloren bei verschiedenen Havarien und Unfällen das Leben, eine weitere Person ist vermisst und eine andere lebensgefährlich verletzt. Seit August sind im Kontext der kontinentaleuropäisch-britischen Migration mindestens sechs Menschen gestorben. Zählt man die vermutlich ertrunkenen Vermissten hinzu, deren exakte Zahl nicht bekannt ist, könnten es bis zu elf Todesopfer gegeben haben – fast alle innerhalb der vergangenen sechs Wochen. Währenddessen bargen französische Rettungsdienste so viele Exilierte aus Seenot wie selten zuvor, und noch nie erreichten so viele Channel migrants die englische Küste an einem einzigen Tag. Hier ein Überblick über die bislang bekannten Fakten.
Vor der Küste von Harwich in der englischen Grafschaft Essex geriet am 25. Oktober ein Boot mit Migrant_innen in Seenot. Wie BBC berichtete, konnten zwei somalische Passagiere gerettet werden. Bis zu drei weitere Menschen gelten aus vermisst. Die Suche nach ihnen wurde inzwischen eingestellt.
Ein weiterer Todesfall in Transmarck

Zum zweiten Mal innerhalb von vier Wochen ist im Gewerbegebiet Transmarck bei Calais ein Geflüchteter durch einen Lastwagen ums Leben gekommen. Der Lokalzeitung La Voix du Nord zufolge starb der Mann am 21. Oktober im Krankenhaus von Calais. Am frühen Morgen desselben Tages war er nach Angaben der Staatsanwaltschaft schwer verletzt in der Nähe des Cash & Carry-Geschäfts Pidou gefunden worden. Der am Boden liegende Mann sei von der Feuerwehr der Gemeinde Marck versorgt und ins Krankenhaus gebracht worden. Zur Ermittlung der Todesursache werde noch eine Autopsie durchgeführt. Nach Angaben der zivilgesellschaftlichen Organisationen Salam und Auberge des migrants wurde der von einem Lastwagen angefahren – ähnlich wie der Jugendliche Nasser Yasser Abdallah am 28. September auf der nahe gelegenen Avenue Henri-Ravisse (siehe hier). Der jetzige Fall ist der 305. dokumentierte Todesfall im Kontext des britisch-kontinentaleuropäischen Grenzregimes.
Die Demonstration der Exilierten

Am 8. Oktober demonstrierten etwa 200 bis 300 Menschen in der Innenstadt von Calais. Es war der größte von Exilierten organisierte öffentlich Protest seit Langem, und seine politische Bedeutung reichte weit über den Anlass, nämlich den Tod von Yasser Abdallah, hinaus. Denn es ging gleichermaßen um die generelle Situation der Exilierten in Calais und um die strukturelle wie physische Gewalt, der sie dort ausgesetzt sind. Wenige Tage später, am 11. Oktober, sollten in Calais drei französische Aktivist_innen aus Solidarität mit den Geflüchteten in einen Hungerstreik treten, worüber wir noch berichten werden.
Wir dokumentieren die Demonstration anhand von Bildern der Calaiser Fotografin Julia Druelle und geben im Anschluss daran einen Redebeitrag der Exilierten wieder.
Protest der Exilierten in Calais

Nach dem Tod des jungen Sudanesen Yasser bei einer versuchten Grenzpassage per Lastagen am 28. September 2021 (siehe hier) rufen Exilierte gemeinsam mit solidarischen Akteur_innen für den heutigen 8. Oktober zu einer Demonstration in der Calaiser Innenstadt auf. Ihr Aufruf lautet: „We were patient with the suffering and tragedies that we live until we ran out of patience, so have decided to have a demonstration. We will protest against injustice and the absence of mediatisation of our situation and wish to defend our rights, our lost rights, and the right of the pure soul that was killed without guilt in the past days.“ Außerdem veröffentlichten Geflüchtete in Calais eine Erklärung, in der sie ihre Situation darlegen und auf die Gewalt eingehen, die ihnen durch Polizei und Lkw-Fahrer widerfährt. Wir dokumentieren die Erklärung im Folgenden:
[Updated, 2./12. Oktober 2021] Am frühen Morgen des 28. September 2021 wurde in Marck bei Calais die Leiche eines jungen Mannes aus dem Sudan gefunden. Offenbar wurde er von einem Lastwagen verletzt, als er versuchte, versteckt nach Großbritannien zu gelangen.