Zwei Personen, die im Zuge der jüngsten Gewaltakte im Jungle von Loon-Plage schwer verletzt wurden, haben ihr Leben verloren. Wie die Zeitung La Voix du Nord berichtet, handelt es sich um einen der beiden Männer, die bei einer mutmaßlichen Racheaktion im Jungle von Loon-Plage schwer verletzt wurden, sowie um einen Mann, der dort auf offener Straße niedergeschossen wurde. Währenddessen räumten die Behörden den Jungle ein weiteres Mal.
Schlagwort: Räumungen
Vier Jahre in flagranti
Mindestens 4.684 mal innerhalb von vier Jahren räumten Polizei und Gendarmerie in Calais ein Camp in flagranti. Diese spezielle Praxis von Räumungen – sie zielen nicht auf die Auflösung eines Siedlungsplatzes oder die Evakuierung der Bewohner_innen, sondern wiederholen sich an gleicher Stelle im Turnus von etwa 36 bis 48 Stunden (siehe hier, hier und hier) – begann vor genau vier Jahren, am 8. August 2018. Damals wurden bis zum Jahresende 452 Räumungen gezählt, in den beiden folgenden Jahren waren es 961 (2019) und 967 (2020). In diesem Jahr stieg die Zahl signifikant: Zwischen dem 1. Januar und dem 8. August 2022 waren es mindestens 1.079.
Konfisziertes Wasser
Der 19. Juli 2022 war auch in Nordfrankreich ein Tag mit extremer Hitze. Die Temperatur lag bei knapp 40°C und die Präfektur der Region Hauts-de-France und Nord verbreitete auf Social Media eine Serie von Infografiken über die Bedeutung des Trinkens und den Schutz vulnerabler Personen. Der Zugang zu Trinkwasser ist bei einer solchen Wetterlage in der Tat existenziell, für Hunderte Migrant_innen in Calais und bei Dunkerque aber nicht gegeben. Wir berichteten an dieser Stelle bereits mehrfach über den ungenügenden und zuweilen schlicht fehlenden Zugang zu Trinkwasser (siehe zuletzt hier). Ein aktuelles Beispiel ist die Beschlagnahmung eines Trinkwasserbehälters am Tag nach dem bisherigen Hitzerekord in Loon Plage bei Dunkerque, dem Standort eines der größten informellen Camps der Region.
Ende Juni teilten die Human Rights Observers mit, dass sie in Calais seit Jahresbeginn bereits 907 Zwangsräumungen informeller Lebensorte von Exilierten dokumentiert haben. Allein für den Monat Mai sind 165 Räumungen belegt. Im Jahr 2021 waren es mehr als 1.200 und 2020 etwa 1.000 Räumungen, jeweils im gesamten Jahr (siehe hier und hier). Die Anzahl der Vorjahre dürfte nun also bereits im Sommer erreicht werden und es scheint beinahe, so die Menschenrechtsgruppe, als wolle die Präfektur des Pas-de-Calais „ihren Rekord aus dem Vorjahr brechen“. Im krassem Gegensatz zu diesem Aufwand steht ein fehlender Zugang zur elemtaren Ressource Wasser.
Im Schatten der rechtlichen Auseinandersetzungen um den britisch-ruandischen Migrationsdeal hat die Organisation Human Rights Observers (HRO) auf einem anderen Feld einen juristischen Erfolg errungen. Dabei ging es um die Frage, ob die während der Corona-Pandemie massenhaft gegen ihre Mitglieder ausgesprochenen Verwarnungen rechtmäßig waren. Die Behörden hatten während der pandemiebedingten Lockdowns immer wieder Angehörige zivilgesellschaftlicher Organisationen mit Bußgeldern belegt, die Räumungen der Camps beobachtet oder andere menschenrechtspolitische und humanitäre Arbeit geleistet hatten. Das zuständige Gericht in Boulogne-sur-Mer gab nun zwei Betroffenen recht, die diese Praxis angefechtet hatten.
Im Gebiet von Calais und Dunkerque haben seit Jahresbeginn mehr als 600 Räumungen informeller Lebensorte von Exilierten stattgefunden. Während die Polizeioperationen in Calais weiterhin in großer Zahl und enger zeitliche Taktung durchgeführt werden, finden sie in Grande-Synthe und anderen Randbereichen von Dunkerque seltener, dafür aber sehr viel massiver statt. Die kontinuierliche Beobachtung durch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Observers (HRO) zeigt Kontinuitäten und Veränderungen dieser grenzpolitischen Praxis, vor allem aber dokumentieren sie den anhaltenden menschenrechtlichen Erosionsprozess an der französischen Kanalküste. Gleichzeitig versucht HRO, diese Zustände mit rechtlichen Mitteln anzugreifen.
Ein mutmaßlicher Suizid (2)
Über den jungen Mann, dessen Leichnam am 11. Mai erhängt in einem Lastwagenanhänger im Gerbegebiet Transmarck entdeckt wurde, ist inzwischen Näheres bekannt. Bewohner_innen des Old Lidl-Camps identifizierten ihn als Hassan, 27 Jahre alt, und anders als zunächst gemeldet, kam er nicht aus Eritrea, sondern dem Sudan. „Die Politik an den Grenzen tötet. […] Welche emotionalen Auswirkungen hat das auf die Exilierten?“, hatte eine am Ort tätige zivilgesellschaftliche Gruppe nach dem mutmaßlichen Suizid geschrieben (siehe hier). Eine Reportage des französischen Blogs InfoMigrants beantwortet dies nicht – wie auch? Aber sie skizziert die Situation einiger junger Männer, die mit Hassans Tod konfrontiert sind. Am Tag, als die Reportage erschien, wurde Hassans Camp einmal mehr geräumt.
Die Briefkästen der Camps
[Updated, 11. April 2022] Um die rechtliche Stellung der Exilierten in Calais zu verbessern und insbesondere den permanenten Räumungen entgegenzuwirken, hat Human Rights Observers Anfang April zu einer auf den ersten Blick skurrilen, tatsächlich aber wohldurchdachten Maßnahme gegriffen: Im Namen der Bewohner_innen statteten sie die wichtigsten inoffiziellen Lebensorte der Migrant_innen mit Briefkästen aus.
Immer wieder versuchen zivilgesellschaftliche Organisationen, auf dem Rechtsweg gegen die entwürdigenden Umgang mit außereuropäischen Geflüchteten in Calais vorzugehen – nicht immer, aber teils durchaus erfolgreich. Eine dieser Klagen richtete sich gegen den Präfekten des Departements Pas-de-Calais, Louis Le Franc, und bezog sich auf eine der größten Polizeioperationen des Jahres 2020: die Räumung des Hospital Jungle am 29. September. Wie das Berufungsgericht im nordfranzösischen Douai nun entschied, war diese Räumung illegal und stellt einen Akt der Rechtsbeugung dar. Die Betroffenen können auf Schadenersatz hoffen.
Zwei Kreise der Hölle
Siedlungen Exilierter bei Calais und Grande-Synthe
In diesem Beitrag werden wir zwei Jungles vergleichend beschreiben, einen in der Nähe von Calais und einen in der Nähe von Grande-Synthe – eine geographische Zuordnung, die ihre Lage in den kommunalen Verwaltungsgebieten nur grob beschreibt.
Grundlage dieses Vergleiches sind Beobachtungen vor Ort, die wir am 15. März am Siedlungsplatz Old Lidl und am 16. März in der Siedlung in Loon-Plage / Dunkerque gemacht haben, sowie Hintergrundgespräche mit Exilierten und verschiedenen Vertreter_innen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Außerdem eine beobachtete Räumung am 16. März in der Nähe des Calaiser Krankenhauses, ergänzt durch Ergebnisse aus früheren Recherchen, Gesprächen und Aufenthalten vor Ort.
Old Lidl zwischen Calais und Marck
Der Siedlungsplatz „Old Lidl“ – von den Behörden Turquerie genannt – befindet sich auf dem Gebiet der Gemeinde Marck, unmittelbar an der Stadtgrenze zu Calais. Er liegt zwischen einem Schienenstrang im Norden, sowie diverser LKW-Infrastruktur im Süden und Osten, welche über die Avenue Henri Ravisse an die A16 angebunden ist. Aus Marck ist das Gelände zugänglich von der Avenue Henri Ravisse, aus Calais von einer Kurve, in der die Rue de Normandie in die Rue du Beau Marais übergeht. Dieser Zugang ist durch die Behörden mit einem Erdwall und Findlingen für Kraftfahrzeuge versperrt worden, um die Ausgabe von Essen und Hilfsgütern zu blockieren.