Nachdem fünffachen Mord bei Dunkerque, dem am 14. Dezember 2024 u.a. zwei iranische Kurden aus dem Jungle von Loon-Plage zum Opfer fielen (siehe hier), gaben die Behörden weitere Informationen zum Hergang der Tat und zur Person des Täters Paul Domis bekannt. Vieles bleibt unklar, auch das Motiv. Allerdings gibt es Berührungspunkte zwischen dem Täter und der Migrationsabwehr an der Kanalküste.
Schlagwort: Sekuritisierung
Westlich von Dunkerque entsteht seit Herbst 2023 eine ausgedehnte Anlage aus Metallzäunen und anderen Barrieren (siehe hier). Es ist eine der größten antimigrantischen Architekturen an der nordfranzösischen Küste überhaupt. Die Anlage überzieht den Jungle von Loon-Plage und mit ihm den Ausgangspunkt für zahlreiche Bootspassagen nach Großbritannien. Die Investition von über 5 Millionen Euro bewirkte bislang jedoch lediglich eine Verlagerung des Camps um einige hundert Meter. Die katastrophale Versorgungs- und Sicherheitslage für die Bewohner_innen des Jungle dürfte sich eher weiter verschlechtern.
Der Bau weitläufiger Zäune verändert seit einigen Monaten den Jungle von Loon-Plage. Wer für den Bau der Anlage verantwortlich ist, wer ihn finanziert und welches Ausbauziel erreicht werden soll, bedarf weiterer Recherchen. Doch bereits jetzt ist sichtbar, dass die Anlage einen Einschnitt darstellt. Dabei gilt die Situation im Jungle momentan als extrem angespannt.
Im Sommer 2021 wurde auf dem Canal des Dunes bei Dunkerque eine schwimmende Barriere angelegt, um die Durchfahrt von Schlauchbooten durch den dortigen Fährhafen zum Ärmelkanal zu verhindern. Auf dem Fluss Canche in der Normandie besteht seit dem 10. August 2023 eine weitere schwimmende Barriere. Die Behörden des Departements Pas-de-Calais reagieren damit offenbar auf veränderte Techniken der Bootspassagen.
Wie britische Medien Anfang Juni meldeten, haben seit Jahresbeginn 9.988 Personen die britische Seegrenze in kleinen Booten passiert. Inzwischen dürfte ihre Zahl auf über 10.000 angestiegen sein. Zum Vergleich: Im Vorjahr war Mitte Juni die Zahl von 5.000 (siehe hier) und Anfang August die Zahl von 10.000 Bootspassagier_innen (siehe hier) erreicht worden, und 2019 hatte die Zahl bei Jahresesende noch unter 2.000 gelegen. Das Überschreiten der symbolpolitisch gut verwertbaren 10.000er-Marke dürfte den populistischen Diskurs in Großbritannien weiter anheizen, obwohl sie eher das Scheitern einer auf Migrationsverhinderung fokussierten Politik offenbart. Trotz der massiven Einschnitte der britischen Regierung in das Asylsystem, trotz der Drohung mit Deportationen nach Ruanda und trotz der Kompetenzübertragung auf das Militär – alle diese Maßnahmen datieren in die erste Jahreshälfte – wurde die Kanalroute von doppelt so vielen Menschen frequentiert wie ein Jahr zuvor.
Projekt Terminus
Das verschobene Projekt der „Anti-Schleuser-Kameras“ zeigt die banalen Grenzen der Sekuritisierung
Wer den Ausbau der Infrastrukturen zur Bekämpfung der Bootspassagen über eine längere Zeit beobachtet, wird feststellen, dass sie nicht frei von Friktionen war. Zwar ist die Sekuritisierung der neuralgischen Küstenabschnitte um Dunkerque, Calais und Boulogne-sur-Mer nicht zu übersehen: Neue Fahrzeuge und neues Equipment der personell verstärkten Polizei- und Gendarmeriebehörden sind im Einsatz, nachts kreisen Drohnen über den Dünen und ein Frontex-Flugzeug überfliegt von Lille aus die Küstenlinie. Ein Checkpoint an der E 40, die von Deutschland über Belgien nach Dunkerque und Calais führt, soll knapp hinter der französische Grenze das Heranschaffen von Schlauchbooten verhindern. Und als sich im vergangenen Herbst ein Vigipirate-Fahrzeug bei einem pubertären Fahrmanöver auf dem Gelände des Camps Old Lidl im Morast festfuhr und mithilfe der Campbewohner_innen im Wortsinne aus dem Dreck gezogen werden musste, wurde deutlich, dass ein ursprünglich zum Antiterrorkampf geschaffenes Polizeiprogramm inzwischen Teil der Migrationskontrolle geworden ist.
Als die Kanalroute nach dem Tod von mindestens 27 Menschen eine Weile in den medialen Fokus rückte, wurde viel darüber spekuliert, ob die Katastrophe wohl einen Wendepunkt markiere. In der Tat sank die Zahl der Bootspassagen nach dem 24. November – dem Tag der Katastrophe, an dem knapp 800 Exilierte den Ärmelkanal überquert hatten –, praktisch auf Null. Der Grund dafür war allerdings schlechtes Wetter, das eine Bootspassage unmöglich machte. In nervöser Stimmung warteten rechte Akteure wie Nigel Farage auf den Tag, an dem sich das Wetter beruhigen würde, und stilisierten ihn zu einer Art Probe aufs Exempel: Ob Frankreich dann wohl willens oder in der Lage sei, weitere Bootspassagen zu unterbinden? Nun hat sich das Wetter beruhigt und über 900 Menschen durchquerten den Ärmelkanal am 16. und 17. Dezember in behelfsmäßigen Booten. Statt einer imaginierten Wende wird der Fortbestand des Status quo sichtbar.
Nach dem verheerenden Bootsunglück auf dem Ärmelkanal vor einer Woche dominieren gegenseitige Schuldzuweisungen die politische Aufarbeitung in Frankreich und Großbritannien. Die von EU und Großbritannien als Reaktion jeweils auf den Weg gebrachten Maßnahmen bewegen sich im erwartbaren Rahmen und dürften kaum dazu beitragen, Menschenleben zu retten. Der politische Druck aus der Zivilgesellschaft nimmt jedoch zu und zeigt erste Auswirkungen.
Die Bootspassagen, ihre Verlagerung nach Dunkerque und ein improvisiertes Kanu in Calais
Mehr als 3.000 Geflüchtete haben Großbritannien seit Jahresbeginn in kleinen Booten erreicht, etwa ein Drittel von ihnen trotz phasenweise ungünstiger Witterung im Laufe des Mai. Dies sind etwa doppelt so viele Personen wie im Vorjahreszeitraum, als die gleiche Anzahl erfolgreicher Passagen erst in der zweiten Julihälfte registriert wurde. Infolge der stärkeren Kontrolle der französischen Küste bei Calais rückt nun der Küstenabschnitt zwischen Dunkerque und der belgischen Grenze stärker in den Fokus. Doch auch von Calais legen weiter Boote ab. Ende Mai wurde dort sogar ein Boot entdeckt, das aus Stöcken und Zellophan zusammengesetzt worden war.
Die Fährbesetzung 2019
Ein Rückblick aus aktuellem Anlass
In den Reaktionen auf das (angeblich) versuchte Eindringen von etwa hundert Geflüchteten auf das Gelände des Calaiser Hafens in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai 2021 (siehe hier) wurde häufig auf eine Hafen- bzw. Fährbesetzumg im März 2019 hingewiesen. Beiden Ereignissen ist gemeinsam, dass sie sich an einem der am stärksten sekuritisierten Orte Frankreichs ereigneten, der zugleich ein besonders neuralgischer Punkt der externalisierten britischen Grenze ist. Beide Ereignisse verbindet aber auch, dass niemand derjenigen, die später darüber berichteten, anwesend war. Und beide werden durch das Narrativ miteinander verknüpft, dass Schmuggler_innen als Hintermänner agiert haben sollen. Wir möchten dies zum Anlass nehmen, einige bislang nicht veröffentlichte Recherchen über die Hafenaktion im März 2019 vorzustellen, die die damaligen Ereignisse in einem anderen Licht erscheinen lassen.