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Opfer der Grenzpolitik: Die Todesfälle im Jahr 2023

Gedenken in Equihen bei Boulogne-sur-Mer am 12. Dezember 2023 für die verstorben und vermissten Exilierten an der Kanalküste. (Foto: Osmose 62)

Mindestens 28, vermutlich aber über 30 Exilierte starben 2023 im britisch-kontinentaleuropäischen Grenzraum. Die Gesamtzahl der dokumentierten Todesfälle stieg damit auf annähernd 400 Menschen seit der Jahrtausendwende. Sie alle sind direkt oder indirekt Opfer einer Migrationspolitik, die eine sichere und legale Passage der Grenze unmöglich gemacht hat. Keiner der Menschen hätte in einer anderen politischen Konstellation sterben müssen. Als eine Geste des Respekts erinnern wir an die Opfer der Grenze.

Zivilgesellschaftliche Initiativen sowie das Missing Migrants Projekt der Internationalen Organisation für Migration (IOM) dokumentieren das Geschehen seit Jahren. Während 2022 insgesamt 19 Todesfälle bekannt wurden (siehe hier), waren es 2023 mindestens 28. Bezieht man das Dunkelfeld unklarer Fälle und vermisster Personen ein, so dürfte die tatsächliche Zahl deutlich über 30 liegen. Auffallend viele Todesfälle ereigneten sich in den Monaten November und Dezember, für die so viele tödliche Ereignisse dokumentiert sind wie seit 2015/16 nicht mehr. Die Menschen starben in unterschiedlichen Situationen: auf See und an Land, teils bei versuchten Grenzpassagen, teils durch Suizid oder durch Gewalt, teils im Zusammenhang mit den Lebensbedingungen in einem informellen Camp. Geografische Hotspots waren, wie bereits in den Vorjahren, die Verkehrsanlagen im Umfeld der Camps von Calais (wo vor allem Geflüchtete leben, die nicht die Mittel für eine Bootspassage besitzen), die Region um Boulogne-sur-Mer (wo ein Großteil der Boote ablegt) und das Gebiet um den Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque (wo viele Geflüchtete die letzten Tage vor einer Bootspassage verbringen). Ein Todesfall ereignete sich in einer neuen britischen Massenunterkunft für Channel migrants. Die Ereignisse mit den meisten Todesopfern waren Havarien am 12. August, 22. November und 15. Dezember 2023.

3. Januar 2023: Der 29jährige F. D. aus dem Sudan wird an der Rue de Judée in Calais von einem Eisenbahnzug getötet. Die Szene ereignet sich im Beisein anderer Exilierter und freiwilliger Helfer_innen. Indizien sprechen für einen Suizid. (siehe hier)

15. Februar 2023: Ein 1989 geborener Kurde aus dem Irak wird am 14. Februar in seinem Zelt im Jungle von Loon-Plage durch einen Kopfschuss schwer verletzt; er stirbt am folgenden Tag im Krankenhaus von Lille. (siehe hier)

10. Mai 2023: Der 30 Jahre alte Ahmed Youssef Adam aus dem Sudan stirbt nach einem Zusammenstoß mit einem Lastwagen auf einer Autobahn in Calais. Indizien sprechen für einen Suizid. (siehe hier)

31. Mai 2023: Im Gewerbegebiet Transmarck bei Calais stürzt der 25jährige Sami Ibrahim aus dem Sudan beim Versuch, auf einen Lastwastwagen zu klettern. Er wird überrollt. (siehe hier)

4. Juli 2023: Ein sudanischer Exilierter namens Yahya, zwischen 20 und 30 Jahre alt, stirbt im Krankenhaus von Calais. Er war am selben Tag auf der Autobahn A 16 bei Calais vom Anhänger eines Lastwagens gestützt. (siehe hier)

12. August 2023: Bei der Havarie eines Schlauchboots im Ärmelkanal sterben sechs Männer aus Afghanistan. Auf dem Schlauchboot befanden sich etwa 65 Passagier_innen, die zuvor im Jungle von Loon-Plage gelebt hatten. Die IOM geht von einer vermissten Person aus. (siehe hier und hier)

14. September 2023: Auf der Nationalstraße 225 bei Bierne zwischen Lille und Dunkerque wird Jallal Alden Mohamed aus dem Sudan von einem Auto angefahren und tödlich verletzt.

26. September 2023: Eine 24jährige Frau aus Eritrea wird bei Blériot-Plage bei Calais an Bord eines ablegenden Schlauchboots tödlich verletzt. Ihr bewusstloser Körper wird über Bord geworfen, ihr Partner springt ihr hinterher und bringt sie zurück an den Strand, kann ihr Leben jedoch nicht retten. (siehe hier)

30. September 2023: Exilierte entdecken im Bourbourg-Kanal in der Nähe des Jungle von Loon-Plage den Leichnam des 33jährigen Dinesh Shanmugarajahaged aus Sri Lanka. Er war ertrunken. (siehe hier)

30. September 2023: Ein unbekannter Exilierter wird auf dem Bahnübergang des Chemin Castre in Calais von einem Güterzug erfasst und getötet. Indizien sprechen für einen Suizid. (siehe hier)

8. Oktober 2023: Bei einer versuchten Bootspassage bei Berck südlich von Boulogne-sur-Mer stürzt der eritreische Staatsangehörige Meron Brhane ins Wasser und stirbt. Medien geben sein Alter mit 18 Jahren an. (siehe hier)

6. November 2023: Der 37jährige Dinh Anh Nguyen aus Vietnam wird von einem Zug tödlich verletzt, als er entlang einer Bahnstrecke geht. Medien berichten nicht über den Fall. Publik wird er durch zivilgesellschaftliche Akteure nach dem Hinweis eines Bediensteten der Eisenbahngesellschaft SNCF. (siehe Timeline)

11. November 2023: Im Krankenhaus von Calais stirbt Awad Adam Goudatullah nach mehrwöchigem Koma an den Folgen einer Messerattacke, die er bei einer Auseinandersetzung zwischen Exilierten am 24. Oktober 2023 erlitten hatte. (siehe hier)

13. November 2023: Der 22jährige Abdelbassit Nourredine Ahmad Mohammad aus dem Sudan wird bei einer erneuten Auseinandersetzung zwischen Exilierten in Calais durch einen Messerangriff getötet. (siehe hier)

17. November 2023: Auf einer Autobahn in Calais fährt ein Laster in eine Gruppe von etwa 15 Exilierten. Der 38jährige Geçsöyler Mehmet Ali und der 42jährige Baysal Recep, beide türkische Staatsangehörige, sterben. Vier weitere Personen werden verletzt, eine von ihnen schwer. Der/die Fahrer_in flüchtet. (siehe hier)

22. November 2023: Bei einer versuchten Bootspassage zwischen Equihen-Plage und Neufchâtel-Hardelot südlich von Boulogne-sur-Mer havariert ein Schlauchboot mit etwa 65 Passagier_innen. Dabei sterben die 34jährige Mulu Wolde Tsehaye aus Eritrea, der 38jährige Eskiel Sebsbea Tsgaye aus Eritrea und ein Mann namens Aman. Bis zu einem Leichenfund am 4. Dezember 2023 wird lediglich von zwei Todesopfern ausgegangen. (siehe hier und hier)

9. Dezember 2023: Auf dem Güterbahnhof Fréthun bei Calais, der zur Infrastruktur des Kanaltunnels gehört, stirbt ein Exilierter durch einen elektrischen Schlag; ein Güterzug gerät in Brand. Vermutlich hatte er gemeinsam mit Anderen versucht, sich in einem Güterzug zu verstrecken. (siehe hier)

12. Dezember 2023: An Bord des Wohnschiffs Bibby Stockholm im englischen Portland nimmt sich der 27jährige Leonard Farruku aus Albanien das Leben. Das Schiff dient seit August bzw. Oktober 2023 als Massenunterkunft für Männer, die den Ärmelkanal in Schlauchbooten überquert haben. (siehe hier)

15. Dezember 2023: Nach der Havarie eines Schlauchbootes vor Grand-Fort-Philippe zwischen Dunkerque und Calais stirbt ein Mann namens Mustafa. Die Suche nach zwei Vermissten verläuft ergebnislos (siehe hier). Später wird bekannt, dass seit der Havarie der 24jährige Nima S. und der 26jährige Hiva M., beide aus dem Iran, verschollen sind.

15. Dezember 2023: Beim Ablegen eines Schlauchbootes in Sangatte bei Calais stürzt ein etwa 25jähriger Mann ins Wasser und stirbt. Die Polizei hatte versucht, das Ablegen zu verhindern, wodurch eine chaotische Situation entstanden war. (siehe hier)

Das Dunkelfeld

Nicht alle Todesfälle dürften bekannt geworden sein, vor allem wenn sie sich auf See ereignet haben. Nach mehreren Havarien wurden Personen vermisst, die bei größerer Entfernung zur Küste bzw. bei niedriger Wassertemperatur kaum eine Überlebenschance hatten. Daher muss angenommen werden, dass die nach dem 12. August und 15. Dezember vermissten Menschen nicht mehr leben. Wenn dies zutrifft, wissen wir also von mindestens 31 Todesfällen im Jahr 2023.

An der Küste des Ärmelkanals und der Nordsee werden immer wieder Leichen entdeckt, die in einigen Fällen als Vermisste einer bestimmten Havarie identifiziert werden können. Ist dies nicht möglich, so bleibt unklar, ob es sich um das Opfer eines bereits bekannten oder eines nie dokumentierten Vorfalls handelt. Zuweilen ist nicht einmal sicher, ob es sich überhaupt um eine exilierte Person handelt. Die Fundorte können weit vom Ärmelkanal entfernt sein, in der Vergangenheit wurde zweimal sogar im Süden Norwegens die Körper Vermisster entdeckt. Im Oktober 2023 wurden auf der niederländischen Insel Texel Leichenteile von zwei nicht identifizierbaren Personen angespült, bei denen es sich vermutlich um Exilierte handelt. (siehe hier)

Außerdem werden vermutlich nicht alle tödlichen Ereignisse dokumentiert. Denn dies setzt in fast allen Fällen voraus, dass Rettungsdienste, Polizei, Justiz oder zivilgesellschaftliche Organisationen alarmiert werden, Ermittlungen einleiten bzw. bei der Benachrichtigung der Angehörigen und der Beisetzung oder Überführung helfen. Aber es sind auch Szenarien denkbar, in denen solche Alarmierungen nicht erfolgen. So berichtete uns eine Helferin im Jungle von Loon-Plage Ende November von einem verzweifelten jungen Mann. Nach dem Grund für seine Verfassung gefragt, habe er von einer Havarie am 25. November 2023 berichtet. Seiner Schilderung nach hätten sich die meisten Passagier_innen schwimmend an die Küste retten können. Drei seiner Freunde konnten jedoch nicht schwimmen und ertranken. Der junge Mann habe die Angehörigen der drei Freunde unterrichtet. Der Bericht lässt sich nicht verifizieren.

Auch bei Todesfällen an Land ist nicht immer erkennbar, ob sie im Zusammenhang mit der Migration nach Großbritannien stehen. So führt Calais Migrant Solidarity abweichend zu anderen Dokumentationen den Tod zweier sudanischer Männer auf: Der eine wurde am 23. August 2023 ertrunken in Lille aufgefunden; dort hatte es in der Vergangenheit mehrere ähnliche Todesfälle gegeben, deren Umstände bis heute ungeklärt sind. Der andere Mann war am 5. Mai 2023 im Gefängnis von Longuenesse von einem Mithäftling ermordet worden. In beiden Fällen konnten wir keine Angaben darüber finden, ob es sich um Exilierte auf dem Weg nach Großbritannien gehandelt hat. Wir haben sie daher nicht in unsere Liste der sicher dokumentierten Todesfälle aufgenommen.