Erneut endete eine versuchte Grenzpassage bei Calais tödlich. Aus ersten Medienberichten geht hervor, dass ein Exilierter bei der Kontrolle eines Lastzugs leblos entdeckt wurde. Offenbar war er von der Ladung eingeklemmt und getötet worden. Der Leichenfund ereignete sich in Transmarck, einem Gewerbegebiet, das auf den Frachtverkehr nach Großbritannien spezialisiert ist und daher seit Jahren auch eine Zwischenstation für Geflüchteten ist, die nicht die Mittel für eine Bootspassage besitzen.
Autor: tm
Die Havarie von Wimereux im Kontext der Grenzpassagen um die Jahreswende 2023/24

Beim Ablegen eines Schlauchbootes bei Wimereux starben am frühen Morgen des 14. Januar 2024 fünf Geflüchtete (siehe hier). Vier von ihnen, Abadeh (14 Jahre), Mohamed (16 Jahre), Ayham (24 Jahre) und sein Bruder Aysar (26 Jahre), konnten inzwischen identifiziert werden; sie alle sind syrischer Nationalität. Ihr Tod fällt mit dem Wiederbeginn der Bootspassagen nach einer fast einmonatigen Unterbrechung zusammen. Doch auch in dieser witterungsbedingten Pause kam es zu lebensbedrohlichen Situationen, und zwar an Bord von Kühlfahrzeugen. Dies zeigt einmal mehr, dass hochriskante Grenzpassagen nicht nur per Schlauchboot stattfinden und dass sie einen sehr viel weiteren geographischen Raum betreffen als den Küstenabschnitt von Boulogne-sur-Mer, Calais und Dunkerque.
Eine dritte schwimmende Barriere
Zum dritten Mal intallierten die französischen Behörden eine schwimmende Barriere, um die Bootspassagen nach Großbritannien zu erschweren. Sie befindet auf dem Fluss Authie südlich von Boulogne-sur-Mer. Wie schon eine benachbarte Anlage aus dem vergangenen Jahr, richtet sie sich gegen sogenannte Taxiboote: eine Technik, bei der ein anderswo zu Wasser gelassenes Schlauchboot die Passagier_innen von See aus aufnimmt.

Seit dem 22. November 2023 war Pierre Lascoux, ein Freiwilliger der zivilgesellschaftlichen Organisation Salam, im Hungerstreik (siehe hier). Seine Forderungen richteten sich auf die Verbesserung elementarer Bedingungen im Jungle von Loon-Plage. Am 1. Januar 2024, dem 41. Tag, wurde bekannt, dass er seinen Hungerstreik wegen einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes beenden werde. Erreichen konnte er einen Teilerfolg.

Im Jahr 2023 ist die Zahl der Bootspassagen erstmals deutlich zurückgegangen. Hatten 2022 noch etwa 46.000 Menschen den Ärmelkanal auf diese Weise überquert, waren es 2023 knapp 30.000 und damit nur geringfügig mehr als 2021. Bis dahin hatte die Zahl der Passagen von Jahr zu Jahr zugenommen, worauf die britische Regierung mit einer Abkehr von sicher geglaubten Mindestnormen in der Asylpolitik reagierte. Analysiert man die Situation jedoch genauer, so zeigt sich, dass das Jahr 2023 wohl kein Wendepunkt hin zu einer allmählichen Schließung der Kanalroute war. Auch lässt sich der Rückgang nicht allein als Erfolg der Stop the baots-Politik der britischen Regierung erklären. Hier ein Rückblick auf das vergangene und einige Thesen zum begonnenen Jahr.

Mindestens 28, vermutlich aber über 30 Exilierte starben 2023 im britisch-kontinentaleuropäischen Grenzraum. Die Gesamtzahl der dokumentierten Todesfälle stieg damit auf annähernd 400 Menschen seit der Jahrtausendwende. Sie alle sind direkt oder indirekt Opfer einer Migrationspolitik, die eine sichere und legale Passage der Grenze unmöglich gemacht hat. Keiner der Menschen hätte in einer anderen politischen Konstellation sterben müssen. Als eine Geste des Respekts erinnern wir an die Opfer der Grenze.
Tödlicher Herbst

[Updated] Die Häufung von Todesfällen in der Ärmelkanalregion setzt sich fort. Seit 2015/16 sind tödliche Ereignisse nicht über einen so langen Zeitraum so dicht aufeinander gefolgt wie in diesem Herbst. Dieser düstere Befund spiegelt das hohe Risiko der Bootspassagen bei anhaltend ungünstiger Witterung, die nur sehr kurze Zeitfenster zulässt, in denen dann sehr viele Menschen die Passage versuchen. Andere Todesfälle ereigneten sich im Umfeld der nordfranzösischen Camps, auf Straßen und Schienen, als Suizide oder im Zuge gewaltsamer Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen. All dies hängt direkt oder indirekt mit dem hohen migrationspolitischen Druck zusammen, der auf den Exilierten beiderseits des Ärmelkanals lastet und von kommerziellen Schleusern – denen gern die alleinige Verantwortung zugeschrieben wird – kapitalisiert wird. Über einige der jüngsten Todesfälle haben wir bereits berichtet. Hier ein Überblick über die Fälle, die sich seither ereignet haben oder die erst jetzt bekannt wurden.
Die „Drittstaatenlösung“ im Entwurf des neuen CDU-Parteiprogramms
Im Laufe des Herbstes traten Politiker der CDU mit Statements an die Öffentlichkeit, Asylsuchende nach britischem Vorbild in Vertragsstaaten auszulagern. Zur gleichen Zeit stellte der britische Supreme Court die Rechtswidrigkeit des britischen Ruanda-Deals fest (siehe hier), worauf die Londoner Regierung ein verändertes Agreement mit Kigali aushandelte. (Ein Beitrag hierzu folgt.) Inzwischen hat die Programm- und Grundsatzkommission der CDU eine sogenannte „Drittstaatenlösung“ nach dem Muster des Ruanda-Deals in den Entwurf eines neuen Parteiprogramms aufgenommen. Eine künftige Bundesregierung unter Führung der CDU könnte damit einen Systemwechsel in der Flüchtlingspolitik versuchen, der einem Bruch mit bestehenden Schutzrechten gleichkäme. Wir dokumentieren das migrationspolitische Kapitel des Programmentwurfs.
Seit dem 22. November befindet sich ein freiwilliger Helfer der lokalen Organisation Salam im Hungerstreik. Pierre, so sein Name, protestiert gegen die Bedingungen, unter denen Geflüchtete im Raum Dunkerque leben. Was er einfordert, sind existenzielle Dinge wie Zugang zu Trinkwasser und die Einhaltung des sogenannten Winterfriedens, der Menschen in Frankreich während der kalten Jahreszeit vor Obdachlosigkeit schützen soll.

Die wichtigsten Camps im nordfranzösischen Küstengebiet wurden am 30. November 2023 zeitgleich geräumt und über 1200 Menschen auf Aufnahmezentren in ganz Frankreich verteilt. Es war eine der größten Räumungen seit 2016 – und die erste simultan in Dunkerque und Calais durchgeführte. Wenige Tage vor der Räumung hatten wir Gelegenheit, uns einen Eindruck von der Situation in den betroffenen Camps zu verschaffen – es war eine Reise in ein Krisengebiet.